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Ohne Eigenschaften. Das Portrait bei Gerhard Richter

Die diesjährige documenta hat die heftig umstrittene Gelegenheit geboten, einen Aspekt vom Werk des berühmten zeitgenösischen Malers Gerhard Richter ausführlich kennen zu lernen: nämlich seinen Atlas, das heißt die Sammlung von über 5000 Bildern, größtenteils Photographien, die dem Künstler als Vorlage für seine Ölgemälde dienten. Neben Familienaufnahmen, Urlaubsschnappschüssen von Landschaften oder Städten und historischem Material aus Zeitungsarchiven dominiert vor allem ein Motiv: das Porträt. Susanne Ehrenfried hat ihm eine Studie gewidmet und bearbeitet damit ein noch weitgehend unentdecktes Feld der ansonsten nicht unerheblichen Literatur zu Richter. Aber es kommt dabei nicht nur auf den Gegenstand an, sondern auch auf das Verhältnis von Bild-Vorlage und malerischer Darstellung. Richters Malerei stellt sich zwar in die Tradition des Tafelbildes, strebt aber ein Aussehen an, das von Photographien nicht mehr unterscheidbar ist.

Michael Wetzel |
    Andererseits liegt ihm, auch wenn er für seine Bilder tatsächlich Photographien als Vorbild nimmt, nichts ferner als eine photorealistische Malerei. Sein Interesse ist vielmehr die Täuschung des Betrachters, er will nicht Wirklichkeit wie Photographien abbilden, er will Photographien malen, um die typischen Wirklichkeitsverzerrungen der medientechnischen Reproduktion durch malerische Mittel zu entlarven.

    Dieses verwirrende Wechselspiel der Medien Malerei und Photographie ist der zentrale Gegenstand von Ehrenfrieds Buch. Die Autorin erinnert dabei an die Renaissance-Tradition des Paragone, des Wettstreits um den künstlerischen Vorrang zwischen Malerei und Skulptur. Als Wettstreit um die größere Objektivität der Bilder lebt er zwischen Photographie und Malerei wieder auf, wobei letztere sich durch das neue technische Medium bedroht sieht und diesem umgekehrt eine ästhetische Anerkennung verweigert. In der von Richter intendierten "Photographizität" seiner Gemälde sieht Ehrenfried den Versuch, die traditionellen stilistischen, inhaltlichen oder kompositorischen Kriterien der Malerei zu überwinden. Umgekehrt wird aber im Zusammenhang des Porträts auch der Objektivitätsanspruch der Photographie fragwürdig. Bei Richter wird vielmehr das Moment kultureller Normierung gerade an den `technischen' Bilder demonstriert.

    Ehrenfried erinnert in diesem Zusammenhang an die Entwicklungsgeschichte der Porträt-, Polizei- und Paßphotographie, durch die alle individuellen Eigenheiten der Abgebildeten einer stereotypen Bildnorm geopfert werden. Der Titel ihres Buches "Ohne Eigenschaften" drückt dies in Anspielung auf Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" gewissermaßen als ironisches Motto aus: Eigenschaftslosigkeit wird zum Ideal der Repräsentation durch die Apparatur erklärt. Gleich zu Beginn greift die Untersuchung das Beispiel von Richters Atlas auf, in dem das Bildmaterial schon nach Kriterien der Gleichartigkeit und der Varianz seriell standardisiert wird. Nur ein Bruchteil der Vorlagen wurde aber als Ölgemälde umgesetzt, weshalb auch diese Arbeit am Photographischen eine ganz eigene und bezeichnende Seite der künstlerischen Aktivität des Malers Richter ausmacht.

    Das intermediale Spannungsverhältnis von Original und Wiedergabe spitzt sich beim Porträt noch zu. Die Autorin erinnert an die Geschichte der malerischen Porträtkunst und deren traditionelles Dilemma: Einerseits wird von einem Porträt Ähnlichkeit erwartet, andererseits darf diese nicht soweit gehen, daß die jeweilige Ausdruckskraft der Darstellung darin gelöscht wird. Die daraus folgende Aufhebung der individuellen Erscheinung im Medium beherrscht dann auch Richters Portraitmalerei. Das Spezifische seiner Ölbilder, nämlich die Unschärfe durch bewußt verwischte Konturen, wird dabei nicht nur als malerischer Akzent, sondern auch als Anspielung auf Unschärferelationen des photographischen Mediums selbst verstanden. Die Verwischtheit spielt an auf die Verzerrungen und Verzeichnungen, die typisch für photographische Vergrößerungen und Detailausschnitte sind.

    Ehrenfried erinnert beispielsweise an die photographische Technik des Blow up, wie sie durch Antonionis gleichnamigen Film legendär geworden ist. Die Details werden im Prozeß der Vergrößerung immer unschärfer und verwischen im doppelten Sinne des Wortes die Spuren der reproduzierten Realität. Auch für Richter, der mittels eines Episkops seine zum Teil winzigen Photovorlagen auf die Leinwand projiziert, ergibt sich schon durch den optischen Übertragungsvorgang eine Vergröberung der Körnung und Schärfe des Bildes, die dann in Öl auf Leinwand festgehalten wird. Als zentrales Beispiel für dieses Verfahren werden Richters 48 Porträts berühmter Persönlichkeiten näher untersucht. Sie wurden ursprünglich für den deutschen Pavillon der Biennale von Venedig 1972 gemalt. Richter benutzte dafür Lexikonabbildungen berühmter Männer aus Literatur, Musik, Wissenschaft und Technik der letzten zwei Jahrhunderte.

    Ehrenfrieds Interpretation konzentriert sich auf die formalen Gesichtspunkte der Auswahl. Sie verteidigt deshalb Richters Betonung ihres ideologielosen Vorgehens, das allein aus Gründen der Homogenität alle weiblichen und nicht-weißrassigen Repräsentanten ausgeschlossen habe. Was sie stärker interessiert ist vielmehr die Unterwerfung der aus verschiedenen Enzyklopädien zusammengesuchten Vorlagen unter ein vereinheitlichendes Programm der "Uniformierung, Anonymisierung, Fomalisierung und Serialisierung". Es geht Richter ja nicht um die Darstellung der jeweiligen Individualität der Kulturgeschichte, sondern um die Persönlichkeit, das heißt - auch im etymologischen Sinne des Wortes - um die typischen, monotonen beziehungsweise maskenhaften Züge. Diese Entindividualisierung kommt nicht zuletzt in der streng normierten Hängung der Bilder - unter anderem in der Sammlung Ludwig - zum Ausdruck. Wie bei der Unschärfe wird dadurch eine Distanz im doppelten, räumlichen und zeitlichen Sinne geschaffen.

    Der Künstler hat durch photographische Reproduktionen seiner Gemälde nach photographischen Vorlagen die Enteignung des Originals noch weiter vorangetrieben. Zugleich macht Ehrenfried darauf aufmerksam, daß er mit dem Porträt ein traditionelles Genre der Repräsentation öffentlicher Macht aufgegriffen hat. Im Zeitalter der Kredit- und Bahnkarten, in dem verstärkt über das photographische Medium ein Prinzip individueller Wiedererkennbarkeit suggeriert wird, wirkt Richters Parodie besonders provokant. Das, was nämlich die Porträts im Medium der Ölmalerei letztlich bekunden, ist laut Ehrenfried nichts anderes als die "Ähnlichkeit untereinander".

    Das Buch sieht in Richters Kritik der Repräsentation ein starkes konzeptuelles Engagement und erhebt den Künstler gar zum pictor doctus, der "Philosophie malt". Leider werden aber die daraus sich ergebenden Aporien der thematisierten Undarstellbarkeit nicht weiter im Umfeld gegenwärtiger ästhetischer Debatten verfolgt. Gerade in Bezug auf die entscheidende Diskussion um den Begriff der Ähnlichkeit, von Mimesis und Wiederholung, vermißt man Michel Foucaults erhellenden Begriff der Gleichartigkeit. Foucault hatte ihn am Beispiel von Magrittes berühmtem Pfeifen-Bild entwickelt und als Wiederholungsstruktur ohne feststellbares Original bestimmt. Ansonsten bewegt sich die Argumentation des Buches auf einem hohen philosophischen Niveau. Das verzwickte Verweisungsspiel, das Richter zwischen Photographie und Malerei, zwischen seinen Photographien, die wie Malereien aussehen, und seinen Gemälden, die wie Photos aussehen, wie Malereien nach Photos von Gemälden und so weiter, eröffnet, wird so kunstvoll entwirrt.