Freitag, 10. Mai 2024

Archiv


"Ohne Gnade mit der Bevölkerung"

Der Historiker Jürgen Kilian hat das Vorgehen der Wehrmacht beim Rückzug Ende 1943 an der Ostfront untersucht. Er erachtet als Handlungsmotiv "das Prinzip von Befehl und Gehorsam als sehr ausschlaggebend". Sobald bei der Bevölkerung nur der Anschein von Widerstand aufgekommen sei, griffen die Deutschen rücksichtslos durch.

Jürgen Kilian im Gespräch mit Christoph Schmitz | 29.04.2013
    Christoph Schmitz: Obwohl wir doch so viel wissen über den Zweiten Weltkrieg, über den Überfall der Deutschen auf Polen und die Sowjetunion, über den Vernichtungsfeldzug, über die Verbrechen der Deutschen hinter der Front, über die Verbrechen beim Rückzug der Wehrmacht, so ist, man doch immer wieder erstaunt und fassungslos, wenn man mit neuen berichten und Erzählungen konfrontiert wird. Der ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" von Philipp Kadelbach im März hat viele aufgewühlt hier in Deutschland, aber auch in Polen und anderswo. Man muss wohl immer weiter und genauer hinschauen, um zu differenzieren, um die großen Linien genauer beschreiben zu können von Taten und Untaten, wie das Historiker tun – etwa Jürgen Kilian, der in der aktuellen Ausgabe der Vierteljahreshefte des Instituts für Zeitgeschichte in München einen Artikel veröffentlicht hat mit der Überschrift: "Wehrmacht – Partisanenkrieg und Rückzugsverbrechen an der nördlichen Ostfront im Herbst und Winter 1943". Welches Bild zeigt sich Ihnen beim Blick auf dieses Gebiet südlich von Leningrad Ende 43, habe ich Jürgen Kilian gefragt.

    Jürgen Kilian: Ja, Ende 43 haben wir eine relativ chaotische Situation schon in diesem Besatzungsgebiet, in diesem militärisch verwalteten Gebiet. Wir haben im September 43 die Ausrufung des Räumungsbefehls, der eigentlich Monate vor dem Rückzug dieser Truppen aus dem Gebiet erfolgt ist. Und dieser Räumungsbefehl hat zur Folge, dass die Bevölkerung in die Wälder flieht, größtenteils, um eben der Deportation zu entgehen, ein Großteil der Bevölkerung geht zu den Partisanen über, wie es von deutscher Seite heißt, und die Deutschen versuchen hier jetzt, wie es auch in einer Quelle genannt wird, das Letzte aus diesem Gebiet herauszuholen in den folgenden Monaten.

    Schmitz: Bevor wir ins Detail gehen, welche Quellen haben Sie gesichtet?

    Kilian: Das sind vor allem die militärischen Dokumente einmal, also die Befehle und so weiter, die Befehle, Kriegstagebücher, aber auch Selbstzeugnisse, Feldpostbriefe, Tagebuchaufzeichnungen. Und ich habe versucht, auch, so weit greifbar, russische Stimmen immer wieder mit einzubringen.

    Schmitz: Sie sprachen die russische Bevölkerung an. Wie sind die Deutschen mit der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt umgegangen?

    Kilian: Das ist ein sehr vielschichtiges Verhältnis. Natürlich muss man das Ganze sehen, unter dem Oberbegriff Vernichtungskrieg. Also es gibt Fälle, wo die deutsche, vor allem die untere Militärverwaltung, auch durchaus um gemäßigten Umgang mit der Bevölkerung hat. Aber sobald auch nur der Anschein von Widerständigkeit oder Nichtbefolgen deutscher Anweisungen aufscheint, greift man rücksichtslos durch.

    Schmitz: Viele werden deportiert.

    Kilian: Es erfolgt dann eine große Zahl von Deportationen, etwa eine halbe Million Menschen, also wenn man bedenkt, dass in diesem kleinen Gebiet 1,2 Millionen Menschen leben, dann deportiert man hier fast die Hälfte der Bevölkerung.

    Schmitz: Alle nach Deutschland?

    Kilian: Zum Großteil nach Deutschland – also erst in das Baltikum und von dort dann weiter nach Deutschland, als Fremdarbeiter, als Sklaven, wenn man so will, für die deutsche Rüstungsindustrie.

    Schmitz: Sie sprachen das harte Vorgehen kurz an. Was geschah, wenn jemand aus der Bevölkerung Kontakt hatte mit Partisanen?

    Kilian: Wenn man jemanden in Verdacht hatte – so muss man es eigentlich schon sagen –, wenn jemand verdächtigt wurde, mit den Partisanen in Verbindung zu stehen, dann wurde er in jedem Fall erschossen oder erhängt. Also da ging man eigentlich ohne Gnade mit der Bevölkerung dann um.

    Schmitz: Wie sah der Krieg gegen die Partisanen aus?

    Kilian: Der Partisanenkrieg, gerade im russischen Nordwesten, also das ist das Gebiet südlich Leningrads, zeigt doch lange ein, ja, zwiespältiges Bild. Also gerade in dem Bereich vor Leningrad habe ich eine lange Ruhephase, wo eigentlich kaum Partisanenbekämpfung stattfindet. Das ändert sich dann eben im Herbst 43, da eskaliert dann dieser Krieg im Hinterland, wie gesagt, eine große Zahl von Einwohnern geht zu den Partisanen über. Erst jetzt wird diese Partisanenbewegung eine Volksbewegung, und umso härter greift jetzt die Besatzungsmacht durch, natürlich mit immer geringerer Wirkung, weil die Kräfte nicht mehr ausreichen in dieser Kriegsphase.

    Schmitz: Und dann kommt es zu den massiven Verbrechen. Welche waren das, und welche Motive gab es?

    Kilian: Hier ist zu konstatieren, dass die Räumungsaktionen mit der Partisanenbekämpfung nun sich vermischen. Man brennt Dörfer nieder, einerseits, um hier die Verbrannte-Erde-Strategie zu verfolgen, aber auch, um den Partisanen keine Schlupfwinkel mehr zu bieten. Das nimmt jetzt immer mehr geradezu apokalyptische Züge an, diese Partisanenbekämpfung. Und zu Verbrechen: Man tötet hier zunehmend Verdächtige, also Menschen, denen man eigentlich nichts nachweisen kann, nur weil sie halt wahrscheinlich zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

    Schmitz: Und die Motivlage, noch ein Wort dazu?

    Kilian: Die Motive sind hier in erster Linie zu suchen im militärischen Tugendkanon, also hier Stichwort unbedingter Gehorsam, der spielt meines Erachtens nach eine größere Rolle als die rein ideologischen Faktoren, obwohl natürlich diese auch nicht gänzlich zu vernachlässigen sind. Diese ideologischen Faktoren erleichterten mitunter die Entscheidungsfindung gegen oder zulasten der Bevölkerung. Aber ansonsten würde ich in erster Linie das Prinzip von Befehl und Gehorsam als sehr ausschlaggebend erachten.

    Schmitz: Das könnte man als Ihre zentrale These bezeichnen?

    Kilian: Genau.

    Schmitz: Sagt der Historiker Jürgen Kilian über seine Forschungsergebnisse zum Vorgehen der Wehrmacht beim Rückzug im Herbst und Winter 43 an der Ostfront, veröffentlicht in den Vierteljahresheften des Instituts für Zeitgeschichte München.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.