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Ohne Kontrolle durch die Wähler

Wie steht es um die demokratische Legitimation des IWF oder der EZB? Und wie um den Einfluss des einzelnen Bürgers auf solche Institutionen? Fragen, die Catherine Colliot-Thèlene in ihrem Buch "Demokratie ohne Volk" aufwirft - ohne sie befriedigend zu beantworten.

Von Rainer Kühn | 20.02.2012
    Catherine Colliot-Thélène ist eine herausragende Sozialphilosophin. Aber selbst diese erstaunliche Gesellschaftstheoretikerin hat Schwierigkeiten, die Herkulesaufgaben zu schultern, die sie sich in ihrem Buch "Demokratie ohne Demos" selbst aufgebürdet hat. Ihr Anliegen:

    Die ideale politische Gemeinschaft nennen wir heute Demokratie. Die zentrale Frage dieses Buches ist die Bestimmung der Figur des politischen Subjekts, das der Demokratie in ihrer modernen Bedeutung entspricht.
    Colliot-Thélène fragt also nach dem politisch Handelnden, der zur heutigen Demokratie passt. Und zudem geht die französische Autorin zahlreichen anderen, damit zusammenhängenden Problemstellungen nach: Macht, Recht, Nation und, und, und. Themen, die sie nach eigenem Bekunden "zu Ende denken" will: Wie sieht ein zeitgemäßer Begriff von Demokratie aus? Welche Rechte hat jemand, der nicht Staatsbürger ist? Wie entsteht politische Legitimität, wenn immer mehr Macht von Institutionen ausgeübt wird? Dafür argumentiert die Autorin auf höchstem wissenschaftlichen Niveau – mit der Folge, dass wohl nur eine Handvoll von Experten das Werk auch wirklich verstehen wird. Das ist schade, denn Colliot-Thélène hat einiges zu sagen. Der Theoretikerin geht es zunächst darum, die Notwendigkeit einer tief greifenden Revision unseres Demokratieverständnisses zu begründen, (weil) dem Begreifen der Realität moderner Demokratien hauptsächlich die Idee der Selbstregierung entgegensteht.

    Colliot-Thélène ist sich bewusst, dass ihre Verabschiedung der althergebrachten Vorstellung von Demokratie als Regierung-des-Volkes-über-sich-selbst auf Widerspruch stoßen wird. Doch für die französische Philosophin steht eindeutig fest, dass die politischen Spielregeln zunehmend von Instanzen ausgearbeitet werden, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Es ist diese Neukonfiguration der Orte, an denen Macht ausgeübt und Regeln aufgestellt werden, die den fiktiven Charakter des Selbstgesetzgebungsprinzips offenbart.

    Diese Orte der Macht sind für die Autorin etwa der Internationale Währungsfonds oder die Europäische Zentralbank. Instanzen, die über unser Leben entscheiden, aber nie von uns gewählt wurden. Wie aber muss Demokratie dann gedacht werden? Für Colliot-Thélène ist klar: Demokratie entsprach nie den hehren Vorstellungen einer Selbstregierung des Volkes. Demokratie war vielmehr immer nur eine Herrschaftsform, die die politisch Verantwortlichen verpflichtete, den Menschen gegenüber, über die sie ihre Macht ausüben, Rechenschaft abzulegen. Es handelt sich um ein Instrument der Machtkontrolle.

    Demokratie heißt für die Theoretikerin somit nicht mehr, als dass die Herrschenden ihren Wählern gegenüber Rechenschaft ablegen müssen. Aber Rechenschaft ablegen können natürlich auch nicht gewählte Institutionen, so Colliot-Thélène. Das mag realistisch sein – aber ist das noch demokratisch? Als Fazit eines langen Werks ist diese Vorstellung von moderner Demokratie jedenfalls etwas wenig. Das, was die Autorin die Vielzahl transnationaler Machtinstanzen nennt, hat für sie noch weitere Konsequenzen, und zwar für die Gruppe derjenigen, die die politischen Mitbestimmungsrechte haben. Für diejenigen, die bislang als Staatsbürger in einem Nationalstaat eine Gemeinschaft bildeten, den sogenannten "Demos". Doch ist diese Vorstellung eines einheitlichen Demos laut der Autorin mittlerweile überlebt:

    Die wachsende Zahl von Machtinstanzen, an die die Rechtssubjekte ihre Forderungen richten müssen, machen den Demos endgültig zu einer Größe, die sich nicht genau bestimmen lässt. Der heutige Rechtspluralismus macht es erforderlich, sich von der klassischen Vorstellung eines Demos zu verabschieden, verstanden als eine geeinte Gemeinschaft, deren vermeintlicher Wille die Legitimität der Macht begründet.
    Jeder muss also entscheiden, bei welcher Institutionen er seine Anliegen durchsetzen will: Ob er etwa "nach Karlsruhe", also zum Bundesverfassungsgericht geht oder zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und laut Colliot-Thélène führt genau das eben zur Aufsplitterung der Gesellschaft. Sie vertritt somit den Standpunkt, die Individualisierung bedinge, dass das moderne politische Subjekt sich jeder Zuordnung zu einer Gemeinschaft entzieht.
    Auf welches Recht können sich die politisch Handelnden dann aber berufen, etwa ausländische Mitbürger oder Arbeitsmigranten, wenn nicht auf das von einer, meist national verstandenen Gemeinschaft verbürgte Staatsbürgerrecht? Auf welcher Grundlage können sie politische Teilhabe einfordern? Hier verweist Colliot-Thélène auf das sogenannte "subjektive Recht", ein Recht, das jedem Menschen zusteht kraft einer höheren, über jedem Individuum stehenden Macht; nicht weil dieses in der Gesellschaft lebt, sondern auf Grund seines Mensch-Seins.
    Das subjektive Recht umfasst etwa die in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 festgelegten Rechte wie "Leben, Freiheit und Streben nach Glückseligkeit". Der in der Theoriegeschichte umstrittene Begriff des "subjektiven Rechts" wirft natürlich die Frage auf, wer die Durchsetzung dieses, wie die Philosophin Hannah Arendt es nennt: "Recht, Rechte zu haben" garantiert? Colliot-Thélène meint dazu:

    Die einzige echte Garantie für erworbene Rechte ist das, was ihre Erkämpfung möglich gemacht hat, nämlich das Recht eines jeden Menschen, Rechte zu fordern: ein vor-rechtliches Recht, das nicht naturgegeben ist, sondern ausschließlich durch das Handeln von Menschen Realität gewinnt, die nur durch das Abschütteln von Bevormundung zu Subjekten werden.
    Die von Colliot-Thélène gesuchten politisch Handelnden, die der heutigen Demokratie entsprechen, sind also selbstbewusste, freiheitsliebende und mutige Akteure, die sich überall einbringen und ihre Gleichberechtigung erkämpfen und verteidigen. Mit Positionen wie dieser, wie auch mit ihren harschen Wendungen gegen die Tendenzen der Globalisierung, erweist sich Colliot-Thélène als legitime Nachfolgerin der Aufklärung. Sie spricht viele derzeit drängende Probleme an – manche theoretisch grandios, manche erstaunlich naiv. Ihre Positionen erarbeitet sie sich jeweils in Auseinandersetzung mit Geistesgrößen: Kant, Emile Durkheim, Karl Marx und, und, und. Bloß: Wer – außer universitären Zirkeln – kann dem folgen? Das Buch geht viele Problemstellungen an – freilich ohne sie, wie angekündigt, "zu Ende zu denken". Trotzdem: Wer es sich zutraut, sollte das Buch unbedingt lesen.

    Rainer Kühn über: Catherine Colliot-Thelène: Demokratie ohne Volk. Der Band ist in der Hamburger Edition erschienen, hat 251 Seiten und kostet 28 Euro.