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Ohne Pillen keine Heilung

Die Tschechen haben eine hohe Affinität zu Medikamenten in jeglicher Form, und noch immer gehört das Verschreiben von möglichst vielen pharmazeutischen Produkten zum guten Ton beim Arztbesuch.

Von Christina Janssen |
    Josef Stary hat wie immer viel zu tun: Der 79-Jährige versorgt seine Frau rund um die Uhr – er geht einkaufen, kocht, macht die Wäsche und hat dabei immer das reichhaltige Tablettenarsenal seiner Ehefrau im Blick.

    "Sehen Sie, das ist unser Apothekenschrank, überall Pillen. Diese Tabletten hier sind gegen Diabetes, es gibt hier zwei, vier, sechs, zehn, so ungefähr 15 Packungen; und immer wenn etwas fehlt, muss ich schnell zum Arzt laufen, damit er eine neue Packung verschreibt."

    Josefs Frau Marie hat nicht nur Diabetes, sondern auch viele andere Beschwerden. Gegen alles nimmt sie Tabletten. Dadurch entstehen Nebenwirkungen, gegen die sie immer neue Tabletten braucht.

    "Zurzeit nehme ich jeden Tag neun Pillen gegen Bluthochdruck und drei gegen Diabetes. Außerdem nehme ich verschiedene Beruhigungspillen – täglich sind das also 13 Tabletten. Manchmal auch 14."

    Josef: "Und ich bereite meiner Frau die Pillen immer für zwei Wochen vor, ich sortiere sie in einer kleinen Schachtel. Anders geht es nicht, sonst verliert man da den Überblick. Das ist bei uns wirklich schon zu einer Art Familienunterhaltung geworden."

    Ob die vielen Pillen wirklich zur Besserung beitragen – da hat Josef seine Bedenken, doch seine Frau wolle es nicht anders, meint er. Und die Ärzte offenbar auch nicht.

    Marie ist kein Einzelfall. Und so steigen die Kosten im tschechischen Gesundheitssystem immer weiter. Zwar gehen die Tschechen weniger häufig zum Arzt als die Deutschen, durchschnittlich 13 Mal pro Jahr. Doch was den Medikamentenkonsum angeht, sind sie Spitzenreiter in der OECD: 2008 haben die Tschechen pro Person im Schnitt 31 Packungen Medikamente verbraucht – oder besser gesagt: gekauft. Denn ein Teil der Präparate landet erst einmal bei den Vorräten. Sicher ist sicher.

    "Diese Einstellung kommt noch aus der Zeit des Sozialismus, als Medikamente quasi kostenlos waren, aber häufig ausverkauft", sagt die Allgemeinmedizinerin Nadezda Reifova. "Und manche Tschechen denken bis heute so. Deshalb ist diese Manie mit dem Pillenkaufen bei uns immer noch sehr ausgeprägt."

    Einer Erhebung der OECD zufolge schlucken die Tschechen mit Abstand die meisten Pillen gegen Bluthochdruck, bei den Schmerzmitteln stehen sie an dritter Stelle, direkt gefolgt von den Deutschen. Um die Ausgaben zu bremsen, hat die tschechische Regierung vor zwei Jahren eine Praxisgebühr eingeführt - 30 Kronen, umgerechnet etwa 1,20 Euro. Die Zuzahlungen für Medikamente sind ähnlich gering. Trotzdem brachte das die Tschechen derart in Rage, dass die Regierung beinahe abdanken musste. Auch die Ärzte stünden durch die Pillenmanie ihrer Patienten unter Druck, sagt Medizinerin Reifova.

    "Die Tschechen schlucken wirklich sehr gerne Tabletten. Wenn sie ohne Rezept vom Arzt weggeschickt werden, haben sie das Gefühl, dass sie nicht gut behandelt worden sind. Ein guter Arzt muss ihrer Ansicht nach etwas verschreiben, und sei es nur irgendein Grippemittel."

    Nach Ansicht tschechischer Gesundheitsexperten kommt erschwerend hinzu, dass viele Ärzte selbst zu pillengläubig sind und ganz ohne Not zu viel verschreiben. Auch deshalb, heißt es im Gesundheitsministerium, werde man dieses Jahr erstmals die Reserven anzapfen müssen. Ziel sei es, so ein Ministeriumssprecher, die Kosten auf dem Niveau des Vorjahres zu halten. Immerhin zeigen Praxis- und Rezeptgebühren schon Wirkung: Arztbesuche und Medikamentenkäufe nehmen ab. Die Kosten steigen bislang aber trotzdem weiter. Eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems, wie Experten sie seit Jahren fordern, hat bislang keine tschechische Regierung gewagt.