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Ohne Tiefenschärfe

Carlo Lucarelli gilt als einer der Initiatoren der neuen Krimiwoge, die seit Anfang der 90er Jahre den italienischen Buchmarkt beherrscht und eine Renaissance des Genres einleitete. An der Spitze dieser Bewegung steht der Sizilianer Andrea Camilleri mit seinem schwermütigen Commissario Montalbano. Die Millionenauflagen seiner Bücher im In- und Ausland haben nicht nur das kleine palermitanische Verlagshaus Sellerio saniert, sondern auch seinem Helden zu ungeahnter Publizität verholfen: Inzwischen beschloss man in dem Küstenstädtchen Porto Empedocle, wo der gebeutelte Polizist Jahr um Jahr im Widerstreit mit den Behörden Verbrechen aufklärt, den von Camilleri erfundenen Namen Vigàta anzunehmen – Porto Empedolce-Vigàta ist jetzt auf dem Ortsschild zu lesen. Eine derartige Wirkung fiktiver Entwürfe kann Lucarelli bisher nicht verzeichnen, aber er ist mit einer Auflagenhöhe um die 100.000 pro Buch und Übersetzungen in alle europäischen Sprachen der erfolgreichste Schriftsteller seiner Generation.

Von Maike Albath |
    Wie seine Kollegen Giampiero Rigosi, Gianfranco Nerozzi, Marcello Fois oder Santo Piazzese beruft sich Lucarelli auf den Urvater des italienischen Noir, der lange Zeit in Vergessenheit geraten war und unter den hochkulturfixierten Neoavantgardisten eher als verpönte Adresse galt: Giorgio Scerbanenco. Ausgerechnet ein Italo-Russe, 1911 in Kiew geboren, aufgewachsen in Rom und seit seinem sechzehnten Lebensjahr in Mailand Zuhause, hatte nämlich die italienische Variante des urbanen Kriminalromans überhaupt erst erfunden. Scerbanenco, als Mitarbeiter von Frauenzeitschriften und Verfasser unzähliger Heftchenromane mit allen Wassern der Massenkultur gewaschen, kannte keine Berührungsängste und hob mit seinem rasanten Erzählrhythmus, der entschlackten, schnörkellosen Sprache, den gut recherchierten Verbrechen und dem Serienhelden Duca Lamberti eine neue literarische Form aus der Taufe. Und schon bei Scerbanenco ist jede Ordnung prekär. Sein Detektiv ist ein geschasster Mediziner mit Gefängniserfahrungen und steht mit seinem melancholischen Pragmatismus in der Tradition der amerikanischen hard boiled. Gesetze sind in Scerbanencos Büchern kaum mehr als Handlungsempfehlungen, Gerechtigkeit wird nur vordergründig hergestellt, und in den Tiefen rumort immer das nächste Verbrechen.

    Aber warum sind Lucarelli und seine kriminalistischen Mitstreiter so ungeheuer erfolgreich? Die neue Popularität des Genres lässt sich mit den gesellschaftlichen Umbrüchen erklären: Anfang der 90er Jahre kamen die großen Korruptionsfälle ans Licht, die Aktion mani pulite legte das Ausmaß der moralischen Verwahrlosung des Landes bloß, und ein Politiker wie Berlusconi konnte plötzlich Millionen von Wählern auf sich vereinen. Viele jüngere Autoren suchten nach unverbrauchten Beschreibungsparametern, mit denen sie die komplexe Wirklichkeit in den Griff bekommen und gleichzeitig regional verankern konnten. Der Kriminalroman mit seinen eindeutigen Regeln bot da eine gute Grundlage. Und offensichtlich waren auch die Leser dankbar für die spannungsreichen Bücher mit literarischem Anspruch, die den Hautgout des Gewöhnlichen längst abgestreift hatten und zudem bestimmte Gegenden mit ihren Eigenarten erschlossen. Bei Camilleri ist es die sizilianische Provinz, bei Piazzese Palermo, Fois schreibt über Sardinien und Lucarelli über Bologna.

    Das jüngste Produkt des Bologneser Vielschreibers, Laura di Rimini ist allerdings eine Enttäuschung: ein schlapper Remix der üblichen Ingredienzien mit etlichen Déjà-vu-Effekten. Bedauernd erinnert man sich an die vielen gelungenen Folgen von Lucarellis historischer Krimiserie mit dem magenkranken Commissario De Luca, graugesichtig und immer in einen Regenmantel gehüllt, der in einem detailliert recherchierten Bologna der 40er Jahre Verbrecher jagte und nebenbei kurzweilige zeitgeschichtliche Nachhilfestunden lieferte. Von historischer Tiefenschärfe fehlt dieses Mal jede Spur. Schauplatz ist das globalisierte zeitgenössische Bologna; und aus den zwielichtigen Gestalten der Nachkriegszeit sind neumodische Schmalspur-Mafiosi russischer Provenienz geworden, die eher wie Comicfiguren wirken und mit den veritablen Bösewichtern früherer Romane nichts mehr gemein haben.

    Die Studentin Laura, groß, hübsch, adrett gekleidet und ein bisschen klosterschülerinnenhaft, wird trotz ihrer Abneigung gegen Kriminalgeschichten Opfer eines Drogengeschäfts. Auslöser ist ein fatale Verwechselung: Im Hause ihrer Professorin vertauscht Laura ihren Rucksack mit einem äußerlich identischen Exemplar, das allerdings vier Kilo Kokain enthält. Binnen weniger Stunden gerät sie in eine Verfolgungsjagd hinein, bei der ihr durchgeknallte Slawen und schießwütige Polizisten auf den Fersen sind. Der braven Studentin bleibt nichts anderes übrig, als sich in eine schrille Quentin-Tarantino-Figur zu verwandeln und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, bis sie ein paar Wochen und etliche Leichen später das weiße Pulver in den Fluss kippt und zum ersten Mal in ihrem Leben unvorbereitet in eine Prüfung geht.

    Laura di Rimini ist eine glatt geschriebene Mischung aus Thriller und Komödie und geizt nicht an Slapstick, der Rhythmus stimmt, und auch Laura hätte das Zeug zu einer schneidigen Heldin. Aber Lucarelli bleibt auf halber Strecke stecken, so als habe die Puste nicht mehr ausgereicht und der Verlag auf die Abgabe des Manuskripts gepocht. Das Strukturprinzip der Überbietung – jede Komplikation zieht eine weitere nach sich - geht nicht auf, viele Episoden werden eher angerissen als erzählt, der Schluss ist banal. Dass der Bologneser Krimistar alte Ideen aufpeppt wie die akustische Überwachung von Räumen - das zentrale Motiv in seinem wunderbaren Roman Der grüne Leguan (1999) - ist sein gutes Recht, aber im Vergleich mit dem Original wirkt die Variation wie eine abgeschmackte Notlösung. Nach und nach wird Lucarelli zum Recyclingprodukt seiner eigenen Textfabrik.

    Carlo Lucarelli
    Laura di Rimini
    Dumont Verlag, 106 S., EUR 9,90