Das ist der Kraftkerl, hier vorsichtshalber von einer weiblichen Stimme milder gemacht, wie er leibt und lebt. Ein Heckenschütze, der nur aus der sicheren Deckung seine Salven abfeuert, etwa wenn ihm ein unbotmäßiger Kritiker vor Flinte läuft:
"So geht man nicht mit Menschen um. Wer sowas schreibt, den müßte man an seinem eigenen Gedärm erhängen. Üble Umgangsformen zur Zeit im Feuilleton. Ich bin viel zu sensibel für diese Grabenkämpferei."
Man täte dem Kraftkerl unrecht, ihn auf seine Äußerungen zu reduzieren, im Innern zittert er wie Espenlaub vor jedem harschen Wort. Nirgendwo anders in der Literatur ist die Kluft zwischen lautstark postuliertem Programm und seelischem Fundament größer. Das Programm, unüberhörbar brachial vorgetragen:
"Ich bin ungerecht, jähzornig, eitel, unduldsam, selbstbezogen, arrogant, nachtragend, vorlaut, sicherheitsbedürftig, besserwisserisch, zu wenig hilfsbereit, intolerant und leicht verletzbar – und unternehme nichts dagegen, weil es sich um Eigenschaften handelt, die allesamt der Kunst förderlich sind. Mein Ich ist ein Projekt, kein Mensch."
Das Ich hat einen Namen und bemüht sich nach Kräften, diesen zu polieren: Helmut Krausser. Über die Qualität seiner belletristischen Literatur kann man geteilter Meinung sein, an ihrem Publikumserfolg mit Übersetzungen und Verfilmungen gibt es keinen Zweifel. Krausser ist ein hochbegabtes Kind, nicht nur als manisch produktiver Literat, sondern auch als brillanter Schachspieler, belesener Bildungsbürger und dilettierender Komponist. Er liebt die Oper und die klassische Antike, weiß zu allem seinen Senf beizutragen, sein Leben strebt dem wagnerischen Gesamtkunstwerkgedanken zu, ein einziges Entäußerungsprogramm. Das ist spannend, das ist mitreißend, treibt einem an vielen Stellen die Empörung ins Gesicht, aber es bleibt in seinen ungezügelten Affekten immer die Literatur eines hochbegabten Kindes. Vom offen adorierten Vorbild Ernst Jünger, dessen Tagebuch-Manirismen Krausser bis in die Wortwahl hinein kopiert, trennen ihn Welten.
Jünger, der Stoiker, simulierte den Erwachsenen schon in seiner frühsten Prosa, während Krausser, der nun auch schon auf die Vierzig zugeht, immer noch als Rumpelstilzchen auftritt. Allein das wahnsinnige Tagebuch-Projekt, über eine Dekade hinweg jedes Jahr einen anderen Monat zu protokollieren und das Ganze – frisch geschlachtet und nicht sorgsam abgehängt – der gierigen Öffentlichkeit in den Rachen zu werfen, läßt eine völlig neue Spielart des Narzismus erkennen, nahe am Freudschen Geständniszwang angesiedelt. Wieso gibt sich einer preis, wo er doch all diejenigen, denen er sich preisgibt, aus tiefster Seele verabscheut? Ein energetisches Phänomen, scheint es, eine Art Seelendynamo: Helmut Krausser lädt sich durch Reibung auf. Ohne sie würde er verstummen, so aber läuft der Empörungsmotor von Veröffentlichung zu Veröffentlichung wie geschmiert weiter. Jedes Buch eine Flanke, jede Flanke eine Verletzung, jede Verletzung eine Aufforderung zum Gegenangriff.
Doch bevor wir uns in den Fallstricken der Psychologie verheddern, kehren wir lieber zur eingangs gewählten Nomenklatur zurück: der Kraftkerl als literaturzoologisches Phänomen. Hier haben wir es mit einem Exemplar zu tun, das aus dem Dunkel der freien Wildbahn auftauchen möchte, hin zum warmen Herd, ins helle Licht der domestizierten Haustierexistenz strebt. Erbarmen wir uns. Lassen wir ihn an unserem Tisch speisen, in fünf bis zehn Jahren wird aus ihm ein ganz manierlicher Zeitgenosse geworden sein, dessen sporadische Ausfälle man mit der Gelassenheit eines Raubtierbesitzers toleriert. Die meisten Kraftkerle freilich gehen in Gefangenschaft zugrunde.