Das Zentralkomitee der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR geben in Trauer bekannt, dass am 11. September 1971 nach langer schwerer Krankheit der frühere Erste Sekretär des Zentralkomitees der KPDSU und Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, der Pensionist Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, in seinem achtundsiebzigsten Lebensjahr verstorben ist.
Als die Familie dann auf Chruschtschows Grab ein Denkmal hatte errichten lassen und zu befürchten war, das es zu einer Wallfahrtstätte werden könnte, an der die ausgelöschte Erinnerung an die kurzen Jahre des Aufbruchs, revitalisiert würde, ließ die Kremlführung den Friedhof "wegen Renovierungsarbeiten" für die Öffentlichkeit schließen, und dabei blieb es dann, zehn Jahre lang.
Wohl kaum ein Regime hat im letzten Jahrhundert den Tod und den Totenkult derart für seine politischen und ideologischen Zwecke instrumentalisiert wie das sowjetische. Auch davon handelt der Band "Grab und Herrschaft - Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin", den Olaf B. Rader im Beck Verlag herausgebracht hat.
Nach Lenins Ableben gingen Filmaufnahmen von der Totenfeier um die Welt. Trauernde, die händeringend, weinend und betend an dem Aufgebahrten vorbei defilieren, eine nicht enden wollende Menschenkette. Die Kamera schwenkt von Lenins Leiche über seine Jünger und verharrt für einen Moment auf Stalin, der scheinbar bescheiden abseits steht. Er ist der Regisseur des magischen Moments der Machtübertragung; er hat dafür gesorgt, dass einer durch Abwesenheit auffällt: sein Widersacher Trotzki, der "zweiter Mann" im Staat.
An seiner Stelle hält Stalin die Trauerrede und legt einen Treueschwur im Namen der Partei ab. So inszeniert er sich als Erben und Vollstrecker von Lenins legendärem Testament, das er schleunigst verschwinden lässt. Denn es charakterisiert ihn als Grobian und empfiehlt seine Abwahl. Die trauernde Menge wusste davon nichts und übertrug die Liebe auf Stalin, der Lenins Leiche konservieren ließ. Unter seiner Regie wird der Sowjetstaat zum Kirchenstaat, der Führerkult zum Religionssubstitut und Lenins Mumie zum Messias. Die vernunftbesessenen "alten" Bolschewisten standen über dem neuen Mummenschanz und mieden das Mausoleum. Den Kampf um die Nachfolge hatten sie verloren, als sie Stalin Macht über Lenins Leiche gaben.
Mehr als 2000 Jahre vorher hatte der Raub der Mumie von Alexander dem Großen den Ausschlag im Krieg der Diadochen gegeben. Der Besitz der Leiche wies den jungen General Ptolomaius vor dem ägyptischen Volk als legitimen Nachfolger Alexanders aus, den es als Befreier von der persischen Fremdherrschaft verehrte. Die Königsgruft in Alexandria wurde zur Wiege der jungen ptolomaischen Dynastie, zum "Legitimitätsgenerator."
Der König und der Bolschewik - beide von der Historie als "Geschäftsführer des Weltgeistes" im Sinne Hegels gewürdigt. Beide standen an einem historischen Wendepunkt, beide zogen den Hebel der Macht mit Gewalt auf ihre Seite; beide starben vor der Zeit; beide wurden mumifiziert und endeten in einem gläsernen Sarg. Olaf B. Rader nimmt seine Leser mit auf eine Zeitreise um den Globus, kreuz und quer durch die gute alte Geschichtsbücherwelt und eröffnet einen eigensinnigen Blickwinkel:
Die zentralen Thesen des Buches lauten, dass politische Totenrituale zur Befestigung von Herrschaftsverhältnissen eine Art Dauerbrenner in vielen Kulturen darstellten und noch immer darstellen, und dass diese Rituale zur Neuordnung von in Unordnung geratenen gesellschaftlichen Verhältnissen dienen konnten, sich wegen ihrer Effizienz ja geradezu aufdrängten.
Funeralien gleichen sich, auch wenn sie tausend Kilometer und Jahre auseinander liegen. "Königsgräber" werden immer und überall zu Stützpunkten bei der Rekonstruktion des Vergangenen und der Gestaltung des Gegenwärtigen. Sie stiften kollektive Identität und legitimieren individuelle Herrschaft. Rader spannt einen historischen Bogen zwischen königlichen Todesriten, deren Theatralik er sich nicht ganz entziehen kann:
Begeben wir uns nun auf Spurensuche, eine Spurensuche, die vielleicht eine Reihe von Fragen beantworten kann, die mit Sicherheit aber zu neuen Fragen führen wird. Vielleicht genügt ja schon ein Händerreichen, doch hinunterlassen zu den Ahnen müssen wir uns schon. Steigen wir hinab in die Tiefe.
Zumindest den Prolog des Werkes hat der Autor wohl an der Frau seines Herzens und "gestrengen Kritikerin" vorbeigemogelt, der er für "die feine Ironie" dankt, mit der sie freischwebendes Spezialistenwissen und Formulierungsverliebtheit kommentiert habe. Aber wenn er zur Sache kommt, vermischt sich souveränes Wissen mit Fabulierkunst zu einer eigensinnigen, zuweilen etwas chaotisch anmutenden Art des Geschichte-Erzählens. Es kristallisiert sich um magische Symbole, um Gebeine und Gräber von Königen und Heiligen. Das Buch kommt leichtfüßig, ohne viel Anmerkungsgepäck daher. Es verführt zum Assoziieren. Während man irgendwo im Mittelalter weilt, schweifen die Gedanken zum ritualisierten "Schwur von Buchenwald", mit dem DDR-Führer sich als Erben des "Antifaschismus" stilisierten, zu Hitlers Hindenburgkult oder zu einschlägigen Bildern des Holocaust, die in Propagandafilmen der israelischen Armee für ganz andere Kriege instrumentalisiert werden.
Detailverliebt schildert Rader gruselige Bräuche aus mehreren Jahrtausenden. Die Skythen zum Beispiel leisteten sich einen besonders opulenten Totenkult: Sie nahmen den Leichnam verstorbener Fürsten förmlich aus, um ihn mit gestoßenen Erdmandelknollen, Räucherwerk, Dill- und Petersiliensamen zu füllen. Dann nähten sie ihn zu, überzogen ihn mit Wachs, setzten ihn auf einen Paradewagen und fuhren mit ihm auf Besuch bei benachbarten Stämmen:
Als erster injizierte der Pathologe Abrikossow dem Toten sechs Liter Glyzerin, Formalin und Alkohol in die Aorta. Trotzdem setzten Verwesungsflecken an, Schimmelpilze wuchsen. Der Zustand der Leiche verschlechterte sich rapide. Die Augen waren leicht geöffnet und eingefallen. Auch die Lippen klafften leicht auseinander und ließen die Zähne des Toten deutlich sehen.
Die Rede ist wieder von Lenin, dessen Konservierung Geheimdienstchef Felix Dzershinski initiiert haben soll:
Könige werden einbalsamiert, weil sie Könige sind. Was mich betrifft, so besteht die Hauptfrage nicht darin, ob man den Leichnam von Wladimir Ijitsch auf Dauer erhalten soll, sondern wie dies zu geschehen hat.
Schließlich fanden sich ein Anatomiker und ein Chemiker, die Lenin ausnahmen und mit einer Wasser-Formaldehydmischung füllten. Sodann legte man ihn in eine desinfizierende, konservierende Lösung ein, färbte ihn rosa, nähte Lippen wie Lider fest und ersetzte die Augäpfel durch Prothesen. Lenins Hirn wurde amputiert und beschäftigte Generationen von Forschern, die nachweisen sollten, dass er ein "höheres Stadium der menschlichen Evolution" verkörperte. Seine Todesstunde erschien als Geburt des neuen, proletarischen "Übermenschen". Die Legende berichtet von einer speziell ausgeprägten pyramidischen Anordnung seiner Hirnzellen. Tatsächlich war es rettungslos verkalkt. Der Mythos streifte die Grenze der wissenschaftlichen Kuriosität, die Mumie im elektrischen Licht glich eher einer Panoptikumsfigur als einer Erlösergestalt. Aber sie barg die Magie der Macht, tagtäglich pilgerten Tausende zum Mausoleum. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches hatte der Spuk ein jähes Ende. Vom Laboratorium Sowjetunion findet Olaf B. Rader mühelos in die antike Gräberwelt zurück:
Oh glücklicher Jüngling, der du ja für deine Heldentaten einen Homer als Herold hattest.
Diesen Satz soll Alexander der Große an jenem Tumulus ausgerufen haben, unter dem nach damaligem Glauben Achilleus neben seinem geliebten Freund Patrokolos ruhte. Der magische Moment war glänzend inszeniert. Nackt und geölt wie Athleten in Olympia war der junge König mit einem Gefährten von Ilion - dem damaligen Troja - aus zu dem berühmten Grab gerannt. Sie ehrten das tote Paar mit Kränzen und schlüpften gleichsam in seine Haut. Alexander selbst führte die Regie beim Auftakt seines mörderischen Asienfeldzuges und inszenierte sich als Erben Achills - als Träger der hellenischen Kulturmission.
Und wahrlich, denn wenn nicht die Ilias existiert hätte, dann hätte jener Grabhügel, wie dessen Körper auch seinen Namen bedeckt.
Cicero überliefert, der legendäre Feldherr habe stets die Ilias als militärisches Drehbuch unter dem Kopfkissen verwahrt. Dieser Alexander ist ein ciceronischer Alexander, ein Produkt erinnerter Geschichte - geronnener kollektiver Identität, die in Horaz’ ewigen Worten gipfelt:
Süß und ruhmvoll ist es, für das Vaterland zu sterben!
Der Achilleuskult ging im Alexanderkult auf. Das Königsgrab in Alexandria wurde zum magischen Zentrum der Caesaren, die Rader als Alexanderimitatoren charakterisiert. Sie hätten die Mumie studiert, um sie nachzuäffen. Auch im Kampf um die Nachfolge Caesars habe der Besitz des Leichnams den Ausschlag gegeben. Als die Verschwörer den Körper achtlos liegen ließen, statt ihn im Tiber verschwinden zu lassen, hätten sie schon verloren. Beim Anblick des blutverschmierten, von klaffenden Wunden entstellten Diktators habe sich die wutentbrannte Menge auf die Seite des Marcus Antonius geschlagen - des römischen Regisseurs der caesarischen Totensorge.
Aus Raders Blickwinkel wird die Königsleiche zum herrschaftssichernden Faustpfand und zum Medium der Macht. Wer über sie verfügt, kann Vergangenheit wie Zukunft in Szene setzen und sich selbst dabei in den Brennpunkt der Geschichte stellen. Vom christlichen Auferstehungsmythos über den Karls- und Hindenburgkult habe die Totensorge nach Caesar entscheidend auf die Geschichte eingewirkt. Politiker des späten zwanzigsten Jahrhunderts haben gelernt, den Mythos der Toten zu vermeiden. Der belgische Geheimdienst ließ die Leiche des ermordeten kongolesischen Ministerpräsidenten und Freiheitskämpfers Lumumba 1961 in Säure auflösen; der von der französischen Polizei entführte und ermordete marokkanische Oppositionelle Ben Barka "verschwand" 1965 auf die gleiche Weise.
Das Grab als kollektiver Gedächtnisort sei wie ein Vulkan, resümiert Rader, nach Jahrhunderten Ruhe könne er plötzlich wieder ausbrechen wie das auf dem Amselfeld im Kosovo geschehen sei, wo 1389 der legendäre Fürst Lazar im Kampf gegen die Türken gefallen war. Sechshundert Jahre später versammelte Slobodan Milosovic Millionen Menschen an dem Ort, wo der Untergang des serbischen Reiches besiegelt worden war und mobilisierte seine Landsleute für den Entscheidungskampf gegen die Kosovoalbaner.
Als die Familie dann auf Chruschtschows Grab ein Denkmal hatte errichten lassen und zu befürchten war, das es zu einer Wallfahrtstätte werden könnte, an der die ausgelöschte Erinnerung an die kurzen Jahre des Aufbruchs, revitalisiert würde, ließ die Kremlführung den Friedhof "wegen Renovierungsarbeiten" für die Öffentlichkeit schließen, und dabei blieb es dann, zehn Jahre lang.
Wohl kaum ein Regime hat im letzten Jahrhundert den Tod und den Totenkult derart für seine politischen und ideologischen Zwecke instrumentalisiert wie das sowjetische. Auch davon handelt der Band "Grab und Herrschaft - Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin", den Olaf B. Rader im Beck Verlag herausgebracht hat.
Nach Lenins Ableben gingen Filmaufnahmen von der Totenfeier um die Welt. Trauernde, die händeringend, weinend und betend an dem Aufgebahrten vorbei defilieren, eine nicht enden wollende Menschenkette. Die Kamera schwenkt von Lenins Leiche über seine Jünger und verharrt für einen Moment auf Stalin, der scheinbar bescheiden abseits steht. Er ist der Regisseur des magischen Moments der Machtübertragung; er hat dafür gesorgt, dass einer durch Abwesenheit auffällt: sein Widersacher Trotzki, der "zweiter Mann" im Staat.
An seiner Stelle hält Stalin die Trauerrede und legt einen Treueschwur im Namen der Partei ab. So inszeniert er sich als Erben und Vollstrecker von Lenins legendärem Testament, das er schleunigst verschwinden lässt. Denn es charakterisiert ihn als Grobian und empfiehlt seine Abwahl. Die trauernde Menge wusste davon nichts und übertrug die Liebe auf Stalin, der Lenins Leiche konservieren ließ. Unter seiner Regie wird der Sowjetstaat zum Kirchenstaat, der Führerkult zum Religionssubstitut und Lenins Mumie zum Messias. Die vernunftbesessenen "alten" Bolschewisten standen über dem neuen Mummenschanz und mieden das Mausoleum. Den Kampf um die Nachfolge hatten sie verloren, als sie Stalin Macht über Lenins Leiche gaben.
Mehr als 2000 Jahre vorher hatte der Raub der Mumie von Alexander dem Großen den Ausschlag im Krieg der Diadochen gegeben. Der Besitz der Leiche wies den jungen General Ptolomaius vor dem ägyptischen Volk als legitimen Nachfolger Alexanders aus, den es als Befreier von der persischen Fremdherrschaft verehrte. Die Königsgruft in Alexandria wurde zur Wiege der jungen ptolomaischen Dynastie, zum "Legitimitätsgenerator."
Der König und der Bolschewik - beide von der Historie als "Geschäftsführer des Weltgeistes" im Sinne Hegels gewürdigt. Beide standen an einem historischen Wendepunkt, beide zogen den Hebel der Macht mit Gewalt auf ihre Seite; beide starben vor der Zeit; beide wurden mumifiziert und endeten in einem gläsernen Sarg. Olaf B. Rader nimmt seine Leser mit auf eine Zeitreise um den Globus, kreuz und quer durch die gute alte Geschichtsbücherwelt und eröffnet einen eigensinnigen Blickwinkel:
Die zentralen Thesen des Buches lauten, dass politische Totenrituale zur Befestigung von Herrschaftsverhältnissen eine Art Dauerbrenner in vielen Kulturen darstellten und noch immer darstellen, und dass diese Rituale zur Neuordnung von in Unordnung geratenen gesellschaftlichen Verhältnissen dienen konnten, sich wegen ihrer Effizienz ja geradezu aufdrängten.
Funeralien gleichen sich, auch wenn sie tausend Kilometer und Jahre auseinander liegen. "Königsgräber" werden immer und überall zu Stützpunkten bei der Rekonstruktion des Vergangenen und der Gestaltung des Gegenwärtigen. Sie stiften kollektive Identität und legitimieren individuelle Herrschaft. Rader spannt einen historischen Bogen zwischen königlichen Todesriten, deren Theatralik er sich nicht ganz entziehen kann:
Begeben wir uns nun auf Spurensuche, eine Spurensuche, die vielleicht eine Reihe von Fragen beantworten kann, die mit Sicherheit aber zu neuen Fragen führen wird. Vielleicht genügt ja schon ein Händerreichen, doch hinunterlassen zu den Ahnen müssen wir uns schon. Steigen wir hinab in die Tiefe.
Zumindest den Prolog des Werkes hat der Autor wohl an der Frau seines Herzens und "gestrengen Kritikerin" vorbeigemogelt, der er für "die feine Ironie" dankt, mit der sie freischwebendes Spezialistenwissen und Formulierungsverliebtheit kommentiert habe. Aber wenn er zur Sache kommt, vermischt sich souveränes Wissen mit Fabulierkunst zu einer eigensinnigen, zuweilen etwas chaotisch anmutenden Art des Geschichte-Erzählens. Es kristallisiert sich um magische Symbole, um Gebeine und Gräber von Königen und Heiligen. Das Buch kommt leichtfüßig, ohne viel Anmerkungsgepäck daher. Es verführt zum Assoziieren. Während man irgendwo im Mittelalter weilt, schweifen die Gedanken zum ritualisierten "Schwur von Buchenwald", mit dem DDR-Führer sich als Erben des "Antifaschismus" stilisierten, zu Hitlers Hindenburgkult oder zu einschlägigen Bildern des Holocaust, die in Propagandafilmen der israelischen Armee für ganz andere Kriege instrumentalisiert werden.
Detailverliebt schildert Rader gruselige Bräuche aus mehreren Jahrtausenden. Die Skythen zum Beispiel leisteten sich einen besonders opulenten Totenkult: Sie nahmen den Leichnam verstorbener Fürsten förmlich aus, um ihn mit gestoßenen Erdmandelknollen, Räucherwerk, Dill- und Petersiliensamen zu füllen. Dann nähten sie ihn zu, überzogen ihn mit Wachs, setzten ihn auf einen Paradewagen und fuhren mit ihm auf Besuch bei benachbarten Stämmen:
Als erster injizierte der Pathologe Abrikossow dem Toten sechs Liter Glyzerin, Formalin und Alkohol in die Aorta. Trotzdem setzten Verwesungsflecken an, Schimmelpilze wuchsen. Der Zustand der Leiche verschlechterte sich rapide. Die Augen waren leicht geöffnet und eingefallen. Auch die Lippen klafften leicht auseinander und ließen die Zähne des Toten deutlich sehen.
Die Rede ist wieder von Lenin, dessen Konservierung Geheimdienstchef Felix Dzershinski initiiert haben soll:
Könige werden einbalsamiert, weil sie Könige sind. Was mich betrifft, so besteht die Hauptfrage nicht darin, ob man den Leichnam von Wladimir Ijitsch auf Dauer erhalten soll, sondern wie dies zu geschehen hat.
Schließlich fanden sich ein Anatomiker und ein Chemiker, die Lenin ausnahmen und mit einer Wasser-Formaldehydmischung füllten. Sodann legte man ihn in eine desinfizierende, konservierende Lösung ein, färbte ihn rosa, nähte Lippen wie Lider fest und ersetzte die Augäpfel durch Prothesen. Lenins Hirn wurde amputiert und beschäftigte Generationen von Forschern, die nachweisen sollten, dass er ein "höheres Stadium der menschlichen Evolution" verkörperte. Seine Todesstunde erschien als Geburt des neuen, proletarischen "Übermenschen". Die Legende berichtet von einer speziell ausgeprägten pyramidischen Anordnung seiner Hirnzellen. Tatsächlich war es rettungslos verkalkt. Der Mythos streifte die Grenze der wissenschaftlichen Kuriosität, die Mumie im elektrischen Licht glich eher einer Panoptikumsfigur als einer Erlösergestalt. Aber sie barg die Magie der Macht, tagtäglich pilgerten Tausende zum Mausoleum. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches hatte der Spuk ein jähes Ende. Vom Laboratorium Sowjetunion findet Olaf B. Rader mühelos in die antike Gräberwelt zurück:
Oh glücklicher Jüngling, der du ja für deine Heldentaten einen Homer als Herold hattest.
Diesen Satz soll Alexander der Große an jenem Tumulus ausgerufen haben, unter dem nach damaligem Glauben Achilleus neben seinem geliebten Freund Patrokolos ruhte. Der magische Moment war glänzend inszeniert. Nackt und geölt wie Athleten in Olympia war der junge König mit einem Gefährten von Ilion - dem damaligen Troja - aus zu dem berühmten Grab gerannt. Sie ehrten das tote Paar mit Kränzen und schlüpften gleichsam in seine Haut. Alexander selbst führte die Regie beim Auftakt seines mörderischen Asienfeldzuges und inszenierte sich als Erben Achills - als Träger der hellenischen Kulturmission.
Und wahrlich, denn wenn nicht die Ilias existiert hätte, dann hätte jener Grabhügel, wie dessen Körper auch seinen Namen bedeckt.
Cicero überliefert, der legendäre Feldherr habe stets die Ilias als militärisches Drehbuch unter dem Kopfkissen verwahrt. Dieser Alexander ist ein ciceronischer Alexander, ein Produkt erinnerter Geschichte - geronnener kollektiver Identität, die in Horaz’ ewigen Worten gipfelt:
Süß und ruhmvoll ist es, für das Vaterland zu sterben!
Der Achilleuskult ging im Alexanderkult auf. Das Königsgrab in Alexandria wurde zum magischen Zentrum der Caesaren, die Rader als Alexanderimitatoren charakterisiert. Sie hätten die Mumie studiert, um sie nachzuäffen. Auch im Kampf um die Nachfolge Caesars habe der Besitz des Leichnams den Ausschlag gegeben. Als die Verschwörer den Körper achtlos liegen ließen, statt ihn im Tiber verschwinden zu lassen, hätten sie schon verloren. Beim Anblick des blutverschmierten, von klaffenden Wunden entstellten Diktators habe sich die wutentbrannte Menge auf die Seite des Marcus Antonius geschlagen - des römischen Regisseurs der caesarischen Totensorge.
Aus Raders Blickwinkel wird die Königsleiche zum herrschaftssichernden Faustpfand und zum Medium der Macht. Wer über sie verfügt, kann Vergangenheit wie Zukunft in Szene setzen und sich selbst dabei in den Brennpunkt der Geschichte stellen. Vom christlichen Auferstehungsmythos über den Karls- und Hindenburgkult habe die Totensorge nach Caesar entscheidend auf die Geschichte eingewirkt. Politiker des späten zwanzigsten Jahrhunderts haben gelernt, den Mythos der Toten zu vermeiden. Der belgische Geheimdienst ließ die Leiche des ermordeten kongolesischen Ministerpräsidenten und Freiheitskämpfers Lumumba 1961 in Säure auflösen; der von der französischen Polizei entführte und ermordete marokkanische Oppositionelle Ben Barka "verschwand" 1965 auf die gleiche Weise.
Das Grab als kollektiver Gedächtnisort sei wie ein Vulkan, resümiert Rader, nach Jahrhunderten Ruhe könne er plötzlich wieder ausbrechen wie das auf dem Amselfeld im Kosovo geschehen sei, wo 1389 der legendäre Fürst Lazar im Kampf gegen die Türken gefallen war. Sechshundert Jahre später versammelte Slobodan Milosovic Millionen Menschen an dem Ort, wo der Untergang des serbischen Reiches besiegelt worden war und mobilisierte seine Landsleute für den Entscheidungskampf gegen die Kosovoalbaner.