Archiv


Olympischer Populismus

Es ist viel über Zielvorgaben gesprochen worden. Über Ansprüche des Bundesinnenministeriums und des Deutschen Olympischen Sportbundes an Athleten in London. Wie viele Medaillen sollte es für Schwarz-Rot-Gold geben? Wo, wann, in welcher Sportart? Zählen nur Muskelkraft, Hebelverhältnisse, Kondition? Oder dürfen wir charakterliche und sogar politische Ansprüche an die Repräsentanten Deutschlands stellen?

Von Ronny Blaschke |
    Gerade die Deutschen sollten sich nach diesen Spielen einer Frage widmen, die in keiner Zielvereinbarung festgehalten wurde: Von wem sollen Medaillen gewonnen werden? Zählen nur Muskelkraft, Hebelverhältnisse, Kondition? Oder dürfen wir charakterliche und sogar politische Ansprüche an die Repräsentanten der Bundesrepublik stellen? Die aus einem Sportsystem stammen, das Kommunen, Länder und Bund mit Milliarden am Leben hält.

    Die Ruderin Nadja Drygalla hat offenbart: Wir müssen diese Ansprüche stellen. Die Rostockerin hatte das Olympiaquartier verlassen, weil ihre langjährige Beziehung zu dem Neonazi Michael Fischer öffentlich wurde. In den ersten Tagen nach ihrer Abreise suchten viele Medien nach einem Beweis für Drygallas mögliches rechtsextremes Weltbild, mit unscharfen Fotos von Demonstrationen und Zitaten ohne Quellen – fündig wurden sie nicht. Drygalla distanzierte sich in einem Interview von rechtsextremer Ideologie, Michael Fischer berichtete über seinen Austritt aus der NPD. Plötzlich erhielt Drygalla Mitleid und Solidaritätsbekundungen. Von Sippenhaft war die Rede, Hexenjagd, Gesinnungsschnüffelei.

    Es muss erst eine 23 Jahre alte Ruderin bei Olympia auftreten, damit sich überregionale Medien für den Rechtsextremismus in Mecklenburg-Vorpommern interessieren. Wo die NPD mit Kameradschaften, gewaltbereiten Neonazis und Hitler-Verehrern Stimmung gegen Staat und Demokratie schürt. Einen Staat, in dessen Dienst auch Drygalla stand. Sie war Polizeianwärterin und gehörte der Sportfördergruppe an, schied dann aber auf eigenen Wunsch aus. Zu Gunsten ihres Freundes. Hatte sie Angst, als Polizistin in einen Gewissenkonflikt zu geraten? Bei einer Razzia von Neonazis oder einer Kundgebung der NPD?

    Drygalla in Schutz zu nehmen mit dem Verweis auf ihre Privatsphäre, ist fahrlässig. Eine Sportlerin, die im Auftrag des Staates zu Olympia geschickt wird, sollte sich an dessen Werten orientieren. Antifaschistische Gruppen haben Indizien zusammen getragen, die einen Ausstieg Michael Fischers aus der Neonazi-Szene als Farce entlarven könnten. Wer aus der NPD austritt, muss noch lange kein Demokrat sein. Die Partei hat bundesweit etwa 6000 Mitglieder, aber allein bei den Landtagswahlen 2011 in Mecklenburg-Vorpommern erhielt sie mehr als 40000 Wählerstimmen.

    Nachdem Fischer seinen Parteiaustritt verkündete, erhielt die Debatte einen anderen Ton. Politiker und Funktionäre haben Nadja Drygalla wieder sportliche Perspektiven in Aussicht gestellt. Ein weiteres Mal wird Rechtsextremismus auf die NPD reduziert. Menschenfeindliche Einstellungen, die tief in der Gesellschaft verankert sind, bleiben außen vor: Rassismus, Homophobie, die Glorifizierung des Dritten Reichs. Es sind Einstellungen, von denen sich Fischer nicht glaubhaft distanziert hat. Drygalla mag diese Einstellungen nicht teilen, aber sie scheint sie zu dulden. Es ist diese weit verbreitete Gleichgültigkeit, von der NPD und Neonazis profitieren, und die nun durch die Verharmlosung einiger Politiker und Kommentatoren gestärkt wird. Die Demokratie muss solche Einstellungen aushalten. Doch für ein durch und durch staatlich getragenes Sportsystem hat sich Drygalla vorerst disqualifiziert.

    Welche Lehren soll der Sport daraus ziehen? Initiativen, die für ihre Aufklärung gegen Rechtsextremismus staatliche Förderung beantragen, müssen eine Extremismusklausel unterzeichnen. Sonst könnten sie laut Familienministerin Kristina Schröder in den Verdacht geraten, dem Linksextremismus nahe zu stehen. Ein Vorgehen, dass Misstrauen schürt, und den Kampf gegen Rechts hemmt. Nun über einen "Gesinnungstest" für Sportler nachzudenken, ist populistisch. Der Deutsche Olympische Sportbund sollte in seinen Fachverbänden eher für ein politisches Diskussionsklima werben, denn auch Sportler haben eine politische Funktion. Zu wenig wird zwischen Training und Wettkampf über demokratische Werte gesprochen, auch deshalb kann sich ein Fall wie der von Drygalla wiederholen. Funktionäre sind traditionell mit anderen Themen beschäftigt: Zum Beispiel mit dem Zählen von Medaillen.