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Onkelhaft abgestanden

Schon immer haben Gedichte vornehmlich in Gestalt von Anthologien und Almanachen den Weg zum Leser gefunden. Ob "Ewiger Brunnen" oder "Großer Conrady", irgendeine dieser dickleibigen Schwarten mit hunderten von Gedichten findet sich in beinah jedem Haushalt. Kanonisierende Wirkung haben solche Sammlungen von jeher. Jetzt hat Marcel Reich-Ranicki im Rahmen seines "Kanon"-Projekts auch seine ultimative Gedichtauswahl vorgelegt, und auch sie wird ihre Wirkung nicht verfehlen.

Von Tobias Lehmkuhl | 29.03.2006
    Hübsch sieht diese Kassette aus. Die einzelnen Bände sind in dezentem Weiß gehalten, jeder ist von sympathisch-handlichem Umfang. Nicht gedrängt, wie bei Anthologien sonst üblich, sondern freundlich locker sind die Gedichte gesetzt. Angenehm ist es auch, mit den Übersetzungen der mittelhochdeutschen Texte gesondert im Anhang, nicht gleich auf der jeweils nächsten oder gar derselben Seite konfrontiert zu werden. Die Aufteilung der sieben Textbände in Epochen bzw. Jahrhunderte scheint sinnig, und auch der achte Band mit Portraits der über 250 hier versammelten Dichter und Dichterinnen ist sorgsam und beinahe liebevoll eingerichtet.

    So einen Kanon stellt man sich gern ins Regal. Greift man mit der Zeit mal diesen, mal jenen Band heraus, schlägt ihn auf und liest mal hier, mal da, so wird man immer wieder Freude haben, denn unter den Gedichten, die Marcel Reich-Ranicki ausgesucht hat, finden sich einige der Meisterwerke deutscher Verskunst, Strophen, die einem Volk und seinen Sängern alle Ehre machen. Ja, geradezu erbaut wird der Leser das Büchlein bald wieder zuklappen, im Ohr den süßen Klang von Goethes "Mailied" oder Reinmars Minneklagen, und sich wieder dem prosaischen Leben zuwenden.

    Vielleicht aber wird er sich auch in den Texten von Martin Luther festlesen, denen er in anderen Gedichtsammlungen seltsamerweise selten begegnet ist, vielleicht packt ihn mal wieder eine Ballade von Schiller oder Storm, oder er memoriert einen Aphorismus von Bert Brecht. Für all das ist Reich-Ranickis Kanon gut, und soweit mag man nichts Schlechtes daran finden.

    Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Sammlung den Titel "Kanon" wirklich verdient. Denn von einer solch monumentalen Box, auf der dick diese fünf einschüchternden Buchstaben prangen, erwartet man Erschütterndes. Nicht umsonst ist das Wort Kanon gleichen Ursprungs wie Kanone. Im Griechischen bedeutet es vor allem Regel, Vorschrift, Richtscheit. Ein Kanon also schreibt mit einiger Vehemenz und Unbedingtheit etwas vor. Und eigentlich entspräche ein solcher Gestus durchaus der Art Marcel Reich-Ranickis, der ja immer schon gern absolutistisch dekretierte: Dieses Werk ist groß, jenes großer Mist. In einem Begleittext zu seinem Kanonprojekt, der sich seltsamerweise nur im Internet, nicht in der Gedichtsammlung findet, definiert er sein Vorhaben dagegen erstaunlich zurückhaltend.

    Sein Kanon wolle nichts anderes geben als freundliche Hinweise, Vorschläge und Empfehlungen, schreibt er da. Er sei nur ein höfliches Angebot, in dem sich lediglich eine schüchterne Anleitung verberge, ein eher diskreter Fingerzeig. Und tatsächlich fühlt man sich bei der Lektüre dieser Anthologie wie von einem netten Onkel an die Hand genommen, der einem die schöne Welt der Gedichte zeigt. Es ist die schöne alte Welt, wo alles herzlich ungefährlich scheint und irgendwie auch etwas onkelhaft abgestanden riecht.

    Dabei ist die Auswahl nicht nur absolut jugendfrei, sie war schon kanonisch, lange bevor Reich-Ranicki das erste Gedicht für seine Sammlung ausgesucht hat. Wenigstens gilt das für die Gedichte, die Reich-Ranicki bis 1900 zusammen getragen hat. Ein diskreter Fingerzeig hätte da genügt, stattdessen stößt man auf 62 Seiten Goethe und 71 Seiten Schiller– womit sich schon eigenständige Auswahlbände bestreiten ließen. Wozu setzt der Herausgeber einem soviel von etwas vor, was sich ohnehin von selbst versteht?

    Diese Frage wird noch drängender schaut man sich das 20. Jahrhundert an, wie Reich-Ranicki es sieht. Allem Anschein nach kommt es ihm in der Lyrik auf zweierlei an: auf feste Form und auf eine verbindliche Aussage. Was sich nicht reimt und keinem festen Versmaß folgt, hat bei Reich-Ranicki kaum Chancen. Selbstverständlich kann Reich-Ranicki Büchnerpreisträger wie Paul Celan und Friederike Mayröcker nicht ignorieren. Aber auch aus ihren Werken wählt er herkömmlichere und mithin bekömmlichere Beispiele aus. Was sich nicht auf eine klare Botschaft festlegen lässt, bzw. keine auf den ersten Blick nachvollziehbare Geschichte erzählt, scheint ihm durchaus suspekt.

    Darum spielen die Avantgarden des 20. Jahrhunderts so gut wie keine Rolle in diesem Kanon. Kein Hugo Ball, kein Walter Serner, und auch nicht Elke Erb oder Oskar Pastior. Dafür unendlich viel Wolf Biermann und Erich Kästner. Weder Marcel Beyer noch Thomas Kling hält Reich-Ranicki für potentielle Klassiker, dafür aber, man glaubt es kaum, André Heller und Steffen Jacobs. Allem Anschein nach hat die Moderne aus Reich-Ranickis Sicht formal und inhaltlich gegenüber Klassik und Romantik nichts Neues zu bieten. So handelt es sich bei seinem Kanon um eine große Tautologie. Die eine Hälfte kennt man schon, die andere irgendwie auch.

    Entsprechend stammt der Begleittext zu dieser Sammlung von 1980. Neuere Entwicklungen hat Reich-Ranicki da schon längst nicht mehr wahrgenommen, bzw. nicht mehr wahrnehmen wollen. Dass er auswählt, kann man einem Kanon-Kompilator zwar gerade nicht vorwerfen: Wer Normen aufstellt, will damit selten Wagemut beweisen. Auch lässt sich von einer Richtschnur kaum Originalität erwarten. Sinn aber macht ein solches Unternehmen nur, wenn man festzuschreiben sucht, was nicht längst schon festgeschrieben ist. Kanon ist etwas anderes als bloßer Mainstream. Marcel Reich-Ranickis Lyrik-Kassette hat jedoch kaum mehr zu bieten als "Der große Conrady" oder "Der ewige Brunnen". Die einzelnen Bände liegen lediglich etwas besser in der Hand.

    Marcel Reich-Ranicki: Der Kanon. Gedichte. Frankfurt am Main, Insel Verlag 2005. 2096 Seiten, 49,90 Euro.