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Online-Netzwerke sind "nur die Spitze des Eisberges"

Künstler und Andersdenkende sind im Reich der Mitte erwiesenermaßen unerwünscht: siehe den Fall Ai Wei Wei. Über Internet verständigt sich der weniger bekannte Rest der Regimegegner - und das umso effektiver, je mehr Peking deren Webaktivitäten behindere, sagt der Journalist Shi Ming.

Shi MIng im Gespräch mit Dina Netz |
    Der chinesische Autor Liao Yiwu hat China verlassen, weil er sein Buch "Für ein Lied und 100 Lieder" über seine Zeit im chinesischen Gefängnis weder dort noch im Ausland veröffentlichen durfte. Im Moment ist Liao in Deutschland, vorgestern hat er zum ersten Mal nach seiner Ausreise öffentlich gelesen, in Tübingen. In seiner neuen Rolle als Regimekritiker fühlt er sich eigentlich nicht wohl, denn, Zitat: "Ich bin nur ein Dichter. Ich kümmere mich nicht um Politik." Er wolle sich in seinen Texten bloß mit Menschen am Rande der Gesellschaft beschäftigen – nur seien eben gerade solche Texte in China hochpolitisch.
    Der Künstler Ai Weiwei ist in China, auf so halbwegs freiem Fuß. Er werde seine Gastprofessur an der Berliner Universität der Künste antreten, hat er diese Woche gesagt – aber er wisse nicht wann, denn im Moment hat er Ausreiseverbot.

    Wir verfolgen diese Ereignisse hier gebannt, weil sie uns etwas erzählen über das politische und gesellschaftliche Klima im für uns so rätselhaften China.
    Der Kollege Shi Ming verfolgt auch die Entwicklungen in China selbst und beobachtet dabei besonders die sozialen Netzwerke, also sozusagen die inoffizielle Öffentlichkeit. Ich habe ihn gefragt: Sie beobachten in letzter Zeit mehr solcher Netzwerke – was genau beobachten Sie da?


    Dina Netz: Der chinesische Autor Liao Yiwu hat China verlassen, weil er sein Buch "Für ein Lied und 100 Lieder" über seine Zeit im chinesischen Gefängnis weder dort noch im Ausland veröffentlichen durfte. Im Moment ist Liao in Deutschland, vorgestern hat er zum ersten Mal nach seiner Ausreise öffentlich gelesen, in Tübingen. In seiner neuen Rolle als Regimekritiker fühlt er sich eigentlich nicht wohl, sagte er, denn "ich bin nur ein Dichter, ich kümmere mich nicht um Politik". Er wolle sich in seinen Texten bloß mit Menschen am Rande der Gesellschaft beschäftigen, nur seien eben gerade solche Texte in China hoch politisch.

    Der Künstler Ai Weiwei ist in China auf so halbwegs freiem Fuß, er werde seine Gastprofessur an der Berliner Universität der Künste antreten, hat er diese Woche gesagt, aber er wisse nicht wann, denn im Moment hat er Ausreiseverbot.

    Wir verfolgen diese Ereignisse hier gebannt, weil sie uns etwas erzählen über das politische und gesellschaftliche Klima im für uns so rätselhaften China. Der Kollege Shi Ming verfolgt auch die Entwicklungen in China selbst und beobachtet dabei besonders die sozialen Netzwerke, also sozusagen die inoffizielle Öffentlichkeit. Ich habe ihn gefragt: Sie beobachten in letzter Zeit mehr solcher Netzwerke. Was genau beobachten Sie da?

    Shi Ming: Es gibt erstens eine wesentlich größere Vielfalt von Netzwerken. Es sind nicht mehr nur eindeutig Interessennetzwerke, zum Beispiel die Netzwerke der Wohnungsbesitzer. Die gab es eigentlich schon vor sieben, acht Jahren, als die Privatwohnungen an Privatpersonen verkauft werden konnten. Da entstanden diese Interessennetzwerke. Jetzt melden sich zum Beispiel Netzwerke der Familienkirchen, vor allen Dingen der evangelikalischen Familienkirchen, die bislang im Untergrund bleiben mussten. Es gab ja vor einigen Wochen noch Verhaftungen gegen ihre Anführer. Aber ihre Netzzeitung zum Beispiel tauchte jetzt auf, ist auch nicht mehr gesperrt. Das sind dann so neue Qualitäten von Netzwerken, die durchaus zumindest an die Oberfläche des Politischen hin und wieder mal sich heranwagen.

    Netz: Beschreiben Sie doch, Herr Shi, vielleicht dieses Beispiel dieser christlichen Zeitung, die Sie da in China im Internet entdeckt haben. Was passiert denn auf deren Seite?

    Shi Ming: Auf deren Seite passiert zuerst eine Deklaration. Jeder, der sich in dieser Zeitung melden will, darf keine politischen Themen berühren. Aber wenn man etwas genauer liest, ist fast jedes Thema dort politisch besetzt. Zum Beispiel fragte ein Gläubiger einen Pfarrer, er ist ja unter Druck gesetzt worden, diese sogenannten Revolutionslieder in der öffentlichen Veranstaltung mitsingen zu müssen, darf er aber als christlich Gläubiger Mao Zedong als Gott anbeten durch diese Lieder, und der Pfarrer antwortet, ja, du bist jetzt Christ, wenn du nicht unbedingt musst, darfst du es nicht machen, aber wenn du unbedingt musst, musst du das als Lippenbekenntnis mal nebenbei machen. Solche Bemerkungen ermutigen natürlich die Gläubigen, das nicht mehr ernst zu nehmen, was von der politischen Seite angeordnet worden ist. Solche Töne, die durchaus nicht ganz im Sinne der politischen Führung sind, sind sozusagen auf dieser Zeitung an der Tagesordnung. - All diese Hinweise sind zwar nicht politisch formuliert, aber sie sind politisch durchdrungen.

    Netz: Die Frage ist ja, wenn diese neuen Netzwerke, die da jetzt zuhauf auftauchen, alle per Internet organisiert sind, dann kann man die ja auch schnell wieder unterdrücken, indem man deren Seiten sperrt. Gibt es auch noch andere Wege, wie die untereinander organisiert sind?

    Shi Ming: Ja! Diese Online-Netzwerke sind sozusagen nur die Spitze des Eisberges. Zu den meisten Netzwerken online gibt es auch pendants, sogenannte Offline-Strukturen. Beispiel Künstler. Als Ai Weiwei verhaftet wurde zum Beispiel, gab es etliche Andersdenkende, die selbst auch unter polizeilichen Druck geraten sind. Da tauchten viele Menschen auch wieder unter, es gab kaum online noch ihre Spuren. Aber offline haben sie sich oft zum Essen und Trinken getroffen, wo sie sich abgesprochen haben, wann sie wieder auftauchen können, wie sie auftauchen können, welche Themen ansprechen. Man sieht fast jede Stunde neue Diskurse auftauchen, die vorher bei der Verhaftung von Ai Weiwei zum Beispiel strikt verboten waren. Die tauchen jetzt wieder auf.

    Netz: Wie interpretieren Sie denn diese neuen Netzwerke, die jetzt überall auftauchen? Heißt das wirklich, die chinesische Regierung, die chinesische Führung verliert an Boden und der öffentliche Diskursraum wird immer mehr auch von anderen besetzt?

    Shi Ming: Eindeutig! Diese Diskurse erzwingen sich durch die Netzwerke, die ihrerseits aber natürlich auch nicht nur Netzwerke sind. Sie scharen natürlich die sogenannten Szenen um sich. Das heißt, um sie herum gibt es sehr viele Menschen, die direkt diesen Netzwerken nicht angehören, aber diesen Netzwerken sehr zugeneigt sind. Das betrifft sowohl die bildenden Künstler wie auch die darstellenden Künstler wie auch zum Beispiel Filmemacher, oder aber auch die Umweltaktivisten. Die urbane Gesellschaft ist über sehr unterschiedliche Kanäle um diese Netzwerke viel enger verzahnt, als dass die Regierung mit einfachen Verordnungen all diese Netzwerke gleichzeitig unterdrücken könnte, oder sie könnte das zwar für eine kurze Zeit, dann müssen sie aber größere Risiken auf sich nehmen, zum Beispiel, dass alle im Untergrund abtauchen, dass die Gerüchteküchen noch brodelnder kochen. Diese Gerüchte machen nicht online, aber offline die Menschen noch unruhiger, sodass wenn die Behörden letztlich nicht mehr durchhalten können mit Online-Zensur diese unruhige Stimmungen umso wuchtiger ausbrechen im Internet, in verschiedenen Diskussionsforen, in Twitter, in Facebook. Langsam bekommt die Regierung so den Eindruck, es wäre viel besser, wenn sie gewisse Diskurse in ihrem Sinne lenken, als dass sie diese Diskurse von vornherein verbieten.

    Netz: ... , sagt Shi Ming über den immer selbstbewussteren Auftritt chinesischer Netzwerke.

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