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Online-Universität "Kiron" für Flüchtlinge
"Ein Bildungsangebot über Grenzen hinweg"

Flüchtlinge sind wegen fehlender Papiere von Hochschulbildung ausgeschlossen. Nicht so an der Online-Universität "Kiron": Seit Oktober vergangenen Jahres studieren über 1.000 Flüchtlinge auf der Plattform - mit Aussicht auf einen Platz an einer regulären Universität. Demnächst sollen auch Flüchtlinge in der Türkei an den Kursen teilnehmen können, sagte Mitgründer Markus Kreßler im DLF.

Markus Kreßler im Gespräch mit Kate Maleike | 30.05.2016
    Markus Kreßler, Gründer der Kiron University für Flüchtlinge (links). Im Hintergrund die Moderatoren Nicole Dittmer und Christian Rabhansl.
    Markus Kreßler, Gründer der Kiron University für Flüchtlinge (links). Im Hintergrund die Moderatoren Nicole Dittmer und Christian Rabhansl. (Deutschlandradio / Philipp Eins)
    Kate Maleike: Wenn Flüchtlinge studieren wollen, dann sind, wie wir vorhin gehört haben, Studienkollegs wichtige Anlaufstellen zur Vorbereitung. Was aber, wenn man keine Papiere oder Zeugnisse mehr hat? Studenten aus Berlin haben speziell für diese Flüchtlinge im letzten Herbst "Kiron" gegründet. Das ist eine Plattform, über die man Informatik, Ingenieurwissenschaften, Kulturwissenschaften, BWL oder Architektur studieren kann. Markus Kreßler gehört zu den Mitbegründern dieser besonderen Online-Studienplattform. Wie ist denn der aktuelle Stand bei Kiron?
    Markus Kreßler: Wir haben im Oktober letztes Jahr 1.250 Studenten aufgenommen und sind gerade dabei, unsere Erfahrungen auch in die Tat umzusetzen. Wir haben mit Absicht Studenten erst mal aus der ganzen Welt wirklich zugelassen, sodass sich jeder Geflüchtete oder jeder, der aus seiner Heimat vertrieben wurde, von überall anmelden konnte. Und wir wirklich sehen konnten, wie gut funktioniert denn unser System zum Beispiel in Syrien oder in Jordanien oder in der Türkei, wo wir vielleicht gar kein Betreuungssystem für die Studenten anbieten können versus Studenten, die schon in Deutschland vielleicht sogar an der zukünftigen Partneruniversität studieren und ein [unverständlich, Anm. d. Red.] von uns haben und einen Buddy und einen Mentor und auch Sprachkurse bei uns machen können. Diese ganzen Erfahrungen versuchen wir jetzt gerade in die Tat umzusetzen und bereiten uns auf die nächste Aufnahme von Studenten vor.
    Ziel: Partneruniversitäten in Jordanien und der Türkei
    Maleike: Das Studium dauert ja drei Jahre. In den ersten beiden Jahren belegen die Studenten ortsungebundene Onlinekurse, im dritten Jahr wechseln sie dann an eine Partneruniversität, also studieren dann sozusagen stationär. Wie viel Partneruniversitäten gibt es da schon?
    Kreßler: Das dritte Jahr findet an der Partneruniversität statt, das kann aber auch schon das zweite Jahr sein. Das kommt immer ganz drauf an, wie die Partnerschaft mit der Uni aussieht. Wir haben das momentan mit 18 Universitäten, davon sind auch welche außerhalb von Deutschland und sind jetzt aber mit mehr als 50 Universitäten aktuell noch im Gespräch, die gerade in dem Prozess sind, Partner zu werden. Wir sind auch ganz zuversichtlich, dass wir europaweit und hoffentlich auch in der Türkei bald und eventuell sogar in Jordanien auch Partneruniversitäten finden.
    Maleike: Genau, die Türkei ist ein gutes Stichwort. Da kommen Sie nämlich gerade her. Wie ist denn da der Stand, was wollen Sie da aufbauen?
    Kreßler: Die Türkei ist natürlich mit fast drei Millionen syrischen Geflüchteten das Land, in dem einfach die meisten Studierenden auch wohnen, und deswegen versuchen wir in der Türkei momentan herauszufinden, ob wir das Konzept so auch übertragen können. Es gibt da ein paar Schwierigkeiten, weil das Hochschulsystem nicht ganz so wie in Deutschland funktioniert, aber das sieht momentan auch alles ganz vielversprechend aus. Ich bin guter Dinge, dass wir dort auch eins von unseren Programmen zumindest anbieten können.
    Maleike: Wenn Sie sagen, wir machen uns gerade Gedanken darüber, wie das funktioniert. Was können Sie denn sagen, wie funktioniert denn das Studium schon?
    Kreßler: Das sind ganz, ganz unterschiedliche Erfahrungen. Also teilweise sind wir wirklich überrascht von dem Onlinestudium, was schon eine sehr hohe Selbstmotivation fordert, dass einige unserer Studenten da wirklich superaktiv sind und auch in Regelstudienzeit sogar, die es bei uns eigentlich gar nicht gibt. Andere Studenten, die haben sich noch nicht mal wirklich in die Plattform eingeloggt oder auch nur Rätselraten können teilweise, dass sie vielleicht einen Sprachkurs erst mal machen. Manche haben uns auch geschrieben, dass die doch auf einmal ihren Status anerkannt bekommen haben und sich an einer regulären Universität bewerben konnten. So versuchen wir gerade wirklich diese ganzen Erfahrungen umzusetzen. Wir haben jetzt zum Beispiel auch keinen wirklichen Auswahlprozess, aber zumindest einen kleinen Test, dass jemand ein grundständiges Englischniveau sprechen kann und auch Zugang zu einem von unserem Lernorten hat oder vielleicht selber ein Laptop besitzt, damit er dann auch das Studium wirklich wahrnehmen kann und den Platz nicht einem anderen Studenten wegnimmt.
    "Ein Bildungsangebot über Grenzen hinweg"
    Maleike: Also das ist sozusagen die Basis, um bei Kiron starten zu können. Die Grundidee war ja, den Flüchtlingen auch ohne Papiere ein Studium zu ermöglichen, also zu starten und nicht lange zu warten, vielleicht auch einfach die Zeit in Deutschland und anderswo sinnvoll zu verbringen. Ist diese Grundidee aufgegangen, also geht das eigentlich alles so komplett ohne Papiere?
    Kreßler: Ja, das würde ich schon sagen. Also die Möglichkeiten des Digitalen verstehen wir als Bildungsangebot über Grenzen hinweg, wo Identitäten auch einfach egal sind. Bei uns kann jemand einen Account anlegen, einfach anfangen zu studieren, ohne dass er irgendwelche Papiere hat. Diese Grundidee funktioniert, und damit schaffen wir den Studenten natürlich Zeit, wenn man sich wirklich mal den Asylprozess anguckt, auch jetzt dauert das bestimmt zwei, drei Jahre, bis jemand, der in Deutschland ankommt, auch das Deutschlevel hat, seine Hochschulzugangsberechtigung bekommt, den Status hat, vielleicht auch sich in den Lebensumständen befindet, dass er überhaupt ein Studium beginnen kann. Somit haben wir uns von Anfang an die Frage gestellt, wie muss denn eigentlich eine Universität aussehen, die speziell für Geflüchtete funktioniert. Vielleicht ist das auch ein ganz anderes System als die herkömmliche Universität mit einem echten Zeitplan an einem festen Ort, so wie wir sie kennen.
    Maleike: Aber es funktioniert offenbar, es wird ja angenommen, und Sie kriegen ja immer mehr Unterstützer. Wie sieht das mit den Finanzen aus? Sie haben eine Crowdfunding-Kampagne gemacht, um die Kosten einzuspielen, hatten da relativ großes Ziel - 1,2 Millionen, glaube ich, wollten Sie einwerben - hat das funktioniert?
    Kreßler: Genau, wir haben bei der Crowdfunding-Kampagne knapp über eine halbe Million Euro eingesammelt, womit wir auch sehr glücklich waren, und konnten dann natürlich auch mit den Geldern erst mal richtig anfangen zu arbeiten. Aber was fast noch wichtiger war in der Crowdfunding-Kampagne waren die Kontakte, die wir dadurch bekommen haben - zu Unternehmen, auch zu anderen Stiftungen, mit denen wir dann auch ins Gespräch gekommen sind und teilweise auch mit denen dann erfolgreich Förderungen abschließen konnten.
    Maleike: Sie studieren Psychologie, richtig?
    Kreßler: Genau.
    Maleike: Hat das eigene Studium darunter gelitten oder hat Sie das auch noch mal motiviert? Das ist ja wahrscheinlich ziemlich schwierig, das nebeneinander zu händeln.
    Kreßler: Ja, das stimmt. Ich muss tatsächlich noch meine Masterarbeit schreiben. Ich schiebe sie jetzt mittlerweile ein Jahr, seitdem wir das Projekt gestartet haben, vor mir her. Und, ja, warte momentan noch so ein bisschen nach der richtigen Fragestellung, die sich auch bei uns stellt. Wir haben viele Master- und auch Doktorarbeiten jetzt gerade, die über verschiedene Elemente von unserem Programm geschrieben werden, um auch wirklich zu evaluieren, ob die neuen Methoden hinsichtlich der Unterstützung beim Studium oder unsere Auswahlprozesse oder überhaupt dieses ganze neue Studienmodell in einem Planned-Learning-Modell wirklich zu untersuchen. Da bin ich momentan auch noch dran, mir eine Fragestellung auszusuchen und werden die Masterarbeit dann, denke ich, auch darüber schreiben.
    "Bildung ist das stärkste Empowerment-Instrument"
    Maleike: Eine Idee bei Kiron ist ja auch, sozusagen über die Bildung die erfolgreiche Integration zu gestalten. Darüber wird gerade sehr viel diskutiert, welche Möglichkeiten man da hat. Was ist Ihre Erfahrung mit der Onlineuniversität - ist es tatsächlich ein Schlüssel zur erfolgreichen Integration?
    Kreßler: Ja, also das kann man, glaube ich, auf jeden Fall sagen. Bildung selbst ist, glaube ich, schon das stärkste Empowerment-Instrument, das es überhaupt gibt. Also alleine das Gefühl, morgens aufzustehen um etwas von unseren Studenten widergespiegelt zu bekommen und zu wissen, warum man eigentlich gerade den Deutschkurs macht oder warum man von Amt A zu Amt B rennt und versucht, seine Papiere zu bekommen. Ich glaube, das gibt vielen Leuten einfach Hoffnung, und es steckt vielleicht sogar die an, die gar nicht direkt bei uns studieren, und klar, damit fördert es natürlich die Integration.
    Maleike: Was ist denn das nächste große Ziel, was haben Sie sich noch gesteckt?
    Kreßler: In dem Jahr wollen wir erst mal die Zahl der Studierenden noch mal deutlich nach oben schrauben und dann hoffentlich auch wirklich in der Türkei erfolgreich starten, eventuell in Jordanien erfolgreich starten. Da wir ein digitales Projekt sind, haben wir natürlich den Anspruch, das auch irgendwann global auszurollen. Momentan sieht das alles ganz vielversprechend aus, sodass wir da natürlich auch schon die Möglichkeiten austesten, ob man so ein Modell nicht für Geflüchtete weltweit anbieten könnte. Umso größer unser Netzwerk ist, umso stärker ist auch das ganze Studienmodell. Wenn wir uns mal vorstellen, dass jemand aus Deutschland vielleicht auch das Land wieder verlassen muss, aus was für Gründen auch immer, dann hat die Person vielleicht in Frankreich oder der Türkei oder in einem anderen Land auch die Möglichkeit, das Studium fortzusetzen und die Universität einfach im Laptop mitzunehmen.
    Maleike: Ein Onlinestudium für Flüchtlinge weltweit und auch ohne Dokumente oder Zeugnisse, das haben sich also die Gründer von Kiron, der Online-Studienplattform, zum Ziel gesetzt. Markus Kreßler ist einer von ihnen, und die Plattform, die gibt es im Netz unter www.kiron.ngo.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Anmerkung der Redaktion: Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen haben wir in diesem Beitrag das Bild ausgetauscht.