Donnerstag, 18. April 2024

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Oper "Lost Highway" in Frankfurt
Zwischen Wirklichkeit und Psychose

Sex and Crime und Psycho-Grusel: Der Film "Lost Highway" aus dem Jahr 1996 von David Lynch gibt bis heute Rätsel auf. Die Komponistin Olga Neuwirth hat daraus eine Oper gemacht. Nun ist sie erstmals in Deutschland zu sehen – im Bockenheimer Depot Frankfurt. Ein skurriles Werk mit spektakulären Bildwelten.

Von Ursula Böhmer | 17.09.2018
    Jeff Burrell als Fred auf der Bühne
    Lost Highway an der Oper Frankfurt (Monika Rittershaus / Oper Frankfurt)
    Skurrile Klänge wabern ins Bockenheimer Depot Frankfurt. Woher sie kommen, ist zunächst nicht auszumachen. Denn das Ensemble Modern, das sie spielt, sitzt hinter einer Wand, die vorn auf der Bühne steht. Eine Wand, zweigeteilt wie der Plot des Abends: Zwei Handlungsstränge kreisen in der Oper "Lost Highway" um die Figur Fred. Seine Frau Renee wurde ermordet. War er es? Ein Racheakt, weil sie ihn vielleicht mit Andy betrogen hat, bei dem sie auf einer Party waren? In der Todeszelle verliert sich Freds Weg – denn hier verwandelt er sich in den Automechaniker Pete. Und Pete erlebt nun eine ähnliche Mords-Liebes-Geschichte.
    Zwischen Realität und Albtraum
    Pete verguckt sich in Alice, die Geliebte eines Gangsters, die aber auch in die Fänge eines Pornoproduzenten geraten ist. Andy heißt der. Ist es derselbe Andy, bei dem zuvor Fred und Renee auf der Party waren? Ist Renee eigentlich Alice – oder umgekehrt? Ist das ganze Drama nur Freds Kopfgespinst? Oder ist es Petes Albtraum? Was ist hier Wirklichkeit, was Psychose? 1997 hat David Lynch aus diesem Plot den Film "Lost Highway" gemacht: Ein Faszinosum für die österreichische Komponistin Olga Neuwirth, die 2003 im Auftrag der damaligen Kulturstadt Graz eine Oper aus dem Filmstoff kreierte.
    "Weil es mit den verschiedenen Realitäten schon spielt – den verschiedenen Innen- und Außenräumen: Den psychischen Räumen und den inneren Ängsten, und diese Nicht-Verortbarkeit, wo man eigentlich ist! Und das war für mich eine musikalische Anregung, weil mich das immer schon interessiert hat: Was ist real und irreal in der Musik? Was ist aufgenommen, was nicht?"
    Das Libretto schuf Olga Neuwirths künstlerische Partnerin im Geiste, Elfride Jelinek. Die hat sich hier einmal nicht in ihren tiefsinnigen Sprachtiraden an Gott und der Welt abgearbeitet – sondern sich ziemlich strikt an das Film-Drehbuch gehalten:
    "Es wird ja nicht viel geredet. Ein Problem ist ja die Nicht-Kommunikation, die so viel Gewalt auslöst. Die einzige Szene, in der es die Tiraden gibt, ist die Szene mit Mr. Eddy in der Garage, diese "no smoking"-Szene – da kommt es ja auch zu einer wirklichen Hasstirade, aber auch sehr ironisch. Ist ja eine unglaubliche Übertreibung, wie dieser Herr wegen einer Banalität ausflippt!"
    Slapstick mit gefährlichem Beigeschmack
    Gangster "Mr. Eddy" verprügelt in Petes Autowerkstatt brutal einen Mann, weil der das Rauchverbot missachtet hat. Machogehabe. Zugleich eine Warnung an Pete, der bereits ein Auge auf Eddys Geliebte geworfen hat. Wie eine überkandidelte Aufziehpuppe agiert Gangster Eddy – Slapstick, mit gefährlichem Beigeschmack. Olga Neuwirth besetzt in ihrer Oper auch Schauspieler. Für das Changieren der Realitätsebenen im Plot findet sie kongeniale Musikeffekte: Sie vermischt vorab aufgenommene Samples mit live gesungenen und gespielten Klangflächen, flicht hier und da Musikzitate ein – etwa von Kurt Weill oder Claudio Monteverdi.
    v.l.n.r. Rupert Enticknap (Mystery Man), Jeff Burrell (Fred) und David Moss (Mr. Eddy / Dick Laurent) auf der Bühne
    Der amerikanische Regisseur Yuval Sharon hat spektakuläre Bildwelten kreiert (Monika Rittershaus / Oper Frankfurt)
    "Und andererseits spiele ich natürlich mit bestimmten Kleinst-Motiven, zum Beispiel mit Pete im zweiten Teil, wo er glaubt, er ist dieser junge, verile Mann und kann diese Frau erobern – diese große Blechbläser-Motorik, die dann immer mehr zerbricht. Weil da ja das Gleiche ist wie im ersten Teil: Diese Frau kann man nicht erobern! Diese kalte Frau, die nicht reagiert, weil sie schweigt – und Schweigen ist Macht! Deswegen singt die Renee/Alice eigentlich immer ohne diese Melismen, sondern die geraden Töne, weil sie sagt eigentlich nichts!"
    Spektakuläre Filmbildwelten zu skurrilen Klangwelten
    Live-Gesang und elektronische Klangeffekte überlagern sich - eine Stimme splittet sich auf in zwei. Der amerikanische Regisseur Yuval Sharon hat zu dieser surrealen Klangkulisse im Bockenheimer Depot Frankfurt spektakuläre Bildwelten kreiert. Die Wand auf der Bühne ist zweigeteilt: Unten eine grüne Leinwand, vor der Fred anfangs mutterseelenallein dahinvegetiert. Alles, was er unten tut, wird mit Hilfe der sogenannten Greenscreen-Technik allerdings abgefilmt und oben auf eine halbtransparente Leinwand projiziert – mitten in eine künstlich gerierte Bilderwelt hinein, die an ein Edward Hopper-Gemälde erinnert. Künstliche und reale Bilder werden zusätzlich verfremdet, zersplittert: Absolut faszinierend!
    "Ich wollte diese Wahrnehmungen über Frauen, die die Männer haben, zuspitzen und noch weiter distanzieren – dass Fred ganz abgetrennt ist von einem Realitätsbegriff. Und das Publikum ist in einer mächtigeren Situation: Das Publikum sieht, wie er sich in einem Niemandsland verliert. Und dass die Frau vielleicht sogar nur in einem Computerspiel existiert! Und trotzdem ist er total besessen von ihr. Sie macht ihn verrückt!"
    Der Dirigent als Policman
    Bildwelten, Live-Musik und Zuspiel-Samples nun exakt übereinander zu bekommen – das ist die große Herausforderung des Abends. Zumal Dirigent Karsten Januschke und das Ensemble Modern "hinter" der Bühnenwand sitzen.
    "Es ist sicher oft richtig - da die Sänger nur schwer nach Gehör musizieren können -, dass ich manchmal den 'Policeman' à la John Cage geben muss. Zwischendurch freue ich mich aber auch sehr über die Momente, in denen ich genau das nicht machen muss und einfach hemmungslos musizieren darf. Und auch solche Momente gibt es. Es ist genau die Mischung. Und ganz wichtig: Ich muss sehr viel – mehr als bei "normalen" Opernproduktionen – auf das Bild achten. Ich hab also einen Bildschirm vor mir, auf dem ich die Bühne sehe. Und ich muss dort reagieren auf Aktionen, die die Sänger oder Schauspieler machen – und das mit den Musikern in Einklang bringen. Das ist durchaus anspruchsvoll, aber auch lustig!"
    Dirigent, Ensemble, Sängern und Schauspielern gelingt das im Bockenheimer Depot hervorragend. Gemeinsam kreieren sie einen fantastisch-faszinierenden Abend – auch, weil er am Ende ein großes Rätsel bleibt. Gut so, findet Regisseur Yuval Sharon:
    "Wir denken immer, wir können alles durch unsere Sinne und unser Gehirn verstehen. Und alles ist rational! Aber ich glaube, das ist eine Fehleinschätzung! Unter unserer Oberfläche kocht ganz viel, wir nehmen es bloß nicht so wahr! Und so ein Stück zwingt uns, einmal unsere Aufmerksamkeit auf dieses Irrationale zu lenken!"