Samstag, 18. Mai 2024

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Opéra Bastille in Paris
Starke Bilder kommentieren das religiöse Bilderverbot

Nachdem das Programm der Opéra National de Paris seit einigen Jahren mit Ladenhütern und Produkten aus der zweiten Liga der französischen Provinz bestückt wurde, ist Stéphane Lissner zu Beginn seiner Amtszeit ein markanter Auftakt geglückt – mit Arnold Schönbergs "Moses und Aron".

Frieder Reininghaus im Gespräch mit Beatrix Novy | 21.10.2015
    Die Partitur entstand in der Zeit von Mai 1930 bis Anfang 1932 in Berlin (reagierte mithin auf den anschwellenden gesellschaftlichen Antisemitismus, noch nicht auf die staatlich organisierte Judenverfolgung). Die Uraufführung fand erst nach Schönbergs Emigration und Kriegsende statt. Das Werk, zu dem sich der Komponist in den 20er-Jahren den Text (frei nach dem Buch Exodus) selbst erarbeitet hatte, wurde zunächst für beinahe unrealisierbar gehalten wegen der gewaltigen Anforderungen an die Chöre und die rhythmische Vertracktheit. In den letzten zwei Jahrzehnten haben freilich mehr als ein Dutzend Opernhäuser unter Beweis gestellt, in welchem Maß sich die technischen Kompetenzen von Chören und Orchestern gesteigert haben - zuletzt im April Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin mit einer weithin unterhaltsamen Lesart.
    Trotz der weitgehenden und vielseitigen Zuwendung ist "Moses und Aron" ein sperriges Werk geblieben. Es handelt ja nicht nur vom Mann Moses, der das Volks Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft führt. Es erörtert sehr viel weitergehend die Verheißung und Zumutung des "Erwähltseins" und grundsätzlich die vielschichtigen Entstehungsprobleme der monotheistischen Religion. Die beiden großen Kollektive der Pariser Oper stellten unter Beweis, wie differenziert und situationsbedingt wohl- oder stark dosiert sie höchsten Ansprüchen gerecht werden. Von fast "kammermusikalischer" und eleganter Zurücknahme bis zu imposanter Kraftentfaltung stehen alle Mittel zu Gebote: Philippe Jordan sorgt für eine präzise und straffe Realisation. Hörbar werden mit Schönbergs Hauptwerk die singulären Herausforderungen, denen sich die als Propheten auserwählten ungleichen Brüder Moses und Aaron stellen müssen. John-Graham Hall als Tenor Aron ist nicht so sehr agil auftrumpfender Stammvater der Medienleute, sondern einer, der die Anstrengungen der Religionsgründung zur einen Hälfte trägt – die öffentlichkeitswirksamen. Thomas Johannes Mayer repräsentiert mit dem auf Moses' Sprechhemmungen verweisenden Sprechgesang die andere: Einen überragenden Propheten voll Selbst- und Gotteszweifeln – eine grandiose Leistung!

    Castellucci Bebilderung und Inszenierung wächst mit großer Ruhe aus einer milchigen Ursuppe heraus. Nur ein Tonbandgerät hängt zunächst vom Bühnenhimmel herab ins weiße Niemandsland und lässt das Magnetband von der Rolle (Aron verwickelt sich später sehr sinnbildlich in den Bandsalat). Wie in dichtem Nebel zeigt sich der kleine Stier, das "Kalb", erstmals in einem Käfig. Nur schemenhaft zeichnen sich hinterm Gazevorhang die Umrisse der weißen Gewänder von Protagonisten und Choristen ab, die Köpfe erst als dunkle Flecken hinterm Gazevorhang, dann zunehmend konturiert. Ja, so ist zu begreifen: Die Anfänge auch der Religionsgeschichte liegen in Nebeln, die sich lichten.
    Mit dem ersten Ausblick aufs Gelobte Land, ein Theatererkenntnisblitz: Der weiße Rundhorizont öffnet sich mit einem schmalen waagrechten Spalt und gibt den Blick frei auf viele nackte Leiber, die sich auf nicht eindeutig zu erklärende Weise bewegen. Es mögen Teilnehmer einer Orgie sein – oder auch Todgeweihte. Zunehmende Heftigkeit entwickelt der zweite Akt beim Tanz ums Goldene Kalb. Das bildschöne ockerfarbene Tier aus der Auvergne wird aus dem Drahtgehege auf die Bühne geführt und in goldenen Lichtglanz getaucht – mit einer schwarzen Flüssigkeit werden die überschüttet werden, die zu Tode kommen. Es handelt sich nicht nur symbolisch um Blut, sondern zugleich um Farbe – um Druckerschwärze. Eine ganze Reihe von Chorsolisten müssen in einen Graben tauchen, in dem sich offensichtlich auch diese ominöse schwarze Flüssigkeit befindet. Wenn sie wieder heraufsteigen, triefen sie, besuldeln die weiße Bühne. Indem sie sich wälzen, "bezeichnen" sie die Fläche. Doch mit Besen und Feudeln wird ein Teil der Schwärze weggewischt. Es erscheinen – wie beim Tiefdruck – schwarz auf weiß große Buchstaben. So offenbart sich die im Entstehen begriffene Wort- und Schriftreligion als ein ziemlich dunkler, dann durch einen großen Putzeinsatz wieder aufgehellter Prozess. Mit vieldeutigen Bildern von großer Intensität zu intensitätsreichster Musik ist an der Opéra Bastille wieder ein großer Wurf gelungen.