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Operndoppel in Paris

Der Stoff von "Herzog Blaubarts Burg" war nicht neu, aber der ungarische Komponist Béla Bartók hat 1918 an der Budapester Oper ein modernes Stück daraus gemacht mit neuen Klängen. Mit Bartók hat Leos Janácek die Liebe für die Folklore gemeinsam. Janacek hat zahlreiche Volksliedsammlungen und Lieder herausgegeben, darunter das "Tagebuch eines Verschollenen". Beiden Komponisten sind nun am Pariser Palais Garnier Opernabende gewidmet.

Von Frieder Reininghaus |
    In der slowakischen Hauptstadt Bratislava wurde vor einigen Jahren unweit des Nationaltheaters das stadtbekannte "Original" Cumil verewigt: Der in Erz gegossene Eckensteher schaut aus der Hunde-Perspektive auf das Treiben ringsum. Er ragt mit Kopf und Oberkörper aus einem Schacht der Kanalisation - halb ist er abgetaucht.

    Auf die gleiche Weise präsentieren die katalanischen Theatermacher Jaume Plensa, Alex Ollé und Carlos Padrissa den von Leoš Janáček nobilitierten namenlosen Landarbeiter, der in der Zeit des ersten Weltkriegs spurlos verschwand: Sein nackter Oberkörper ragt aus der runden Öffnung - und nur er ist in der großen Weite der dunklen Bühne der Palais Garnier erleuchtet. Er singt von einer Begegnung und man ahnt, dass sie es war, die sein Leben so jäh veränderte: In einem Augenpaar, das sich vielleicht nicht zufällig auf ihn gerichtet hatte, erblickte er einen Abgrund. Er sah gern dort hinein - und doch mit anfänglicher Bangigkeit. Schemenhaft huscht eine Bordsteinschwalbe durch das Zwielicht.
    Die zuständigen mährischen Behörden leiteten vor achtzig Jahren eine Untersuchung über den Verbleib des jungen Mannes ein und stießen dabei auf eine Kladde mit Gedichten, durch die Gründe für das Abtauchen aufs Augenfälligste dargelegt wurden. Ganz offensichtlich hatte er sich der lockenden Verführung nach anfänglichem Zögern mit Inbrunst hingegeben, hatte lichterloh Feuer gefangen und - wo ein Wille, da ist auch ein Gebüsch - sein Ochsengespann stehen gelassen und auf dem Waldboden aufs Heftigste der Liebe gepflegt: "Schattiges Wäldchen, kühle Quelle, (heiße) dunkle Zigeunerin, kleine weiße weiche Knie". Diese vier "Dinge" will er, so sein Versprechen, sein Lebtag nicht mehr vergessen.

    Fast ohne Erdenschwere singt Michael König die Beichte des von der Macht der Liebe ergriffenen Yanik, der Pflug und Eltern im Stich lässt, um mit der schönen Fremden durchzubrennen - die Bewegungsartisten von La Fura dels Baus gesellen dem von Gustav Kuhn so sorgfältig wie stimmig-diskret instrumentierten Monolog eine Welle begehrlicher Gesten hinzu. Doch es gibt auch die Antwort von ihr, der Hannah Esther Minutillo die Stimme verleiht. Zefka klagt das Schicksal der ewigen Mobilität und öffnet dabei die Korsage hinreichend weit, auf dass ein neues Schicksal seinen Lauf nehme.

    Entschieden diskret fällt such die in hohem Maß video-gestützte Bebilderung von Béla Bartóks Zwei-Personen-Stück über die Abgründe der männlichen Seele aus. Willard White profiliert sich als Blaubart an der Seite von Béatrice Uria-Monzon.
    Die Veröffentlichung des sensationellen Allegro barbaro von 1911 machte Bartók in Fachkreisen bekannt, der im selben Jahr begonnene Opern-Einakter Herzog Blaubarts Burg stellte bis heute Bartóks Präsenz auf den Musiktheater-Bühnen sicher. Die Burg dieses abgründigen Herrn - das ist in der neuen Pariser Inszenierung nichts anderes als das Palais Garnier. Über seine gewaltigen Treppen, durch seine illustren Foyers schweben der lange so dominante Mann und Judith, die ihn "knacken" will und wird. Sie will alles sehen, seine ganze Vorgeschichte in Erfahrung bringen - ganz folgerichtig fingern die Hände all der Vorgängerinnen aus dem Laken des Brautbetts. Da züngelt etwas empor, was dieser finalen Zweierbeziehung rasch eine neue Dimension gibt. Mit der Zurücknahme der sonst mitunter so überbordenden körperlichen Einsatzmittel ist La Fura dels Baus eine angemessene Realisierung gelungen, die in ihrer Zweckdienlichkeit für hervorragende Musik überzeugt.