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Opernhaus des Jahres
Lorbeerkranz für München

Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor, hat maßgeblich den Erfolg der Bayerischen Staatsoper im vergangenen Jahr mitbestimmt, sagt Albrecht Thiemann, "Opernwelt"-Chefredakteur. Petrenko, eine Ausnahmeerscheinung, widerspreche dem Glamour-Bedürfnis der Klassik-Branche und konzentriere sich vollständig auf die Arbeit und die Kommunikation mit seinen Mitkünstlern.

Albrecht Thiemann im Gespräch mit Dina Netz | 30.09.2014
    Saal der Bayerischen Staatsoper in München
    Saal und Bühne der Bayerischen Staatsoper in München (dpa / picture alliance / Marc Müller)
    Dina Netz: Die Bayerische Staatsoper München ist Opernhaus des Jahres. Zum ersten Mal haben sie die 50 Kritikerinnen und Kritiker der Zeitschrift "Opernwelt" auf diesen Platz gewählt. Das Bayerische Staatsorchester ist bestes Orchester, Aufführung des Jahres ist "Die Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann an der Bayerischen Staatsoper. Kirill Petrenko, Münchens Generalmusikdirektor, ist für sein Dirigat von Richard Wagners "Ring des Nibelungen" in Bayreuth zum Dirigenten des Jahres gewählt worden. Sänger des Jahres ist Michael Volle, der auch in München singt, und beste Nachwuchskünstlerin ist Hanna-Elisabeth Müller, seit 2012 Ensemble-Mitglied der Bayerischen Staatsoper.
    Sie haben richtig gehört. Ich habe Albrecht Thiemann, Chefredakteur der Zeitschrift "Opernwelt" gefragt: So eine Ballung von Voten für dasselbe Haus und dann noch nach nur einem Jahr Amtszeit des Generalmusikdirektors, das gibt es selten bei Ihren jährlichen Umfragen, oder?
    Albrecht Thiemann: Das ist richtig. Das ist ein Novum. Diese Ballung von Erfolgen ist in der Tat ein sehr ungewöhnliches Ergebnis. Wenn man es sich genauer anschaut, spürt man aber sofort, dass dieses Ergebnis gute Gründe hat. Und eine Schlüsselfigur für den Erfolg, die Schlüsselfigur, besser gesagt, für den Erfolg der Bayerischen Staatsoper ist ohne Zweifel der Dirigent des Hauses, der neue Generalmusikdirektor Kirill Petrenko.
    Netz: Herr Thiemann, er ist erst seit einem Jahr in München im Amt. Wie kann man in einem Jahr so vieles so richtig machen? Was genau, wissen Sie, hat er richtig gemacht?
    Thiemann: Ich glaube, das sind im Wesentlichen zwei Faktoren. Der eine Faktor ist, Kirill Petrenko ist in der Ernsthaftigkeit, in der Bescheidenheit und in der absoluten Konsequenz seiner künstlerischen Arbeit eine Ausnahmeerscheinung. Er ist gleichzeitig jemand, der mit jeder Faser seines Körpers und seiner Seele dem Glamour-Bedürfnis in der Klassik-Branche widerspricht. Er gibt keine Interviews, er konzentriert sich vollständig auf die Arbeit, auf die Werke, auf die Analyse der Werke, die er sich vornimmt, und verwendet seine Energie ausschließlich auf die Kommunikation mit seinen Mitkünstlern.
    Der russische Dirigent Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor am Opernhaus München.
    Der russische Dirigent Kirill Petrenko (picture alliance / dpa - Andreas Gebert)
    Netz: Würden Sie denn den Erfolg der Staatsoper München, die ja auch als Haus Ihre Umfrage gewonnen hat, ausschließlich an Kirill Petrenko festmachen?
    Bayerische Staatsoper ist am besten ausgestattet
    Thiemann: Nein! Das kann man natürlich nicht. Das kann man natürlich nicht sagen.
    Netz: Was sind sonst die Rahmenbedingungen für diesen Erfolg?
    Thiemann: Ich denke, dass die Rahmenbedingungen in dem Haus insgesamt dazu beigetragen haben und maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass das Haus so gut dasteht, wie es jetzt dasteht. Man muss natürlich sagen, die Bayerische Staatsoper ist das am besten ausgestattete Haus in Deutschland, eines der am besten ausgestatteten Häuser weltweit. Damit kann man natürlich mehr machen als an kleineren Häusern und mittleren Häusern. Aber die üppige Ausstattung ist nicht der Hauptgrund, auch nicht der wesentliche Grund für den Erfolg des Hauses. Es gibt natürlich viele Menschen, die hinter den Kulissen wirken in München, die zu diesem Erfolg maßgeblich beigetragen haben, und dazu gehört nicht zuletzt und vor allem eine exzellente Besetzungspolitik.
    Netz: Herr Thiemann, jetzt haben wir mit gutem Grund ganz lange über München geredet. Aber es gibt ja noch ein paar wenige Auszeichnungen, die auch an andere Häuser beziehungsweise Personen gegangen sind. Wollen wir die wenigstens der Vollständigkeit halber noch erwähnen, zumindest die Wichtigsten.
    Thiemann: Es sind sogar eine ganze Reihe von Auszeichnungen in andere Richtungen gegangen. Wir vergeben diese Auszeichnung ja in 15 verschiedenen Kategorien. Das heißt, wir vergeben sie eigentlich nicht, sondern es sind die Ergebnisse unserer Umfrage unter 50 internationalen Kritikern. Eine der markantesten Entscheidungen ist sicherlich die für den Regisseur des Jahres. Das ist in diesem Jahr der italienische Theatervisionär Romeo Castellucci. Dieses Mal ist er gewählt worden für eine visionäre Interpretation der "Orpheus und Eurydike"-Geschichte von Gluck. Er hat sich nämlich die Frage gestellt, wie würde diese Geschichte aussehen, wenn man sie aus der Perspektive des Schattenreiches, des Reiches der aus dem Leben schon Dahingeschiedenen erzählt, und hatte die Idee, diese Eurydike-Perspektive einer Wachkoma-Patientin anzuvertrauen, also einer Person, die mit vollem Bewusstsein anwesend ist, aber für die sogenannten normalsterblichen Lebenden nicht mehr erreichbar. Und er hat diese Inszenierung so gestaltet, dass die Reise von Orpheus in die Unterwelt eine Reise eines Kamerateams an das Krankenbett einer solchen Wachkoma-Patientin ist, die das Publikum im Saal live verfolgen kann.
    Netz: Albrecht Thiemann, Chefredakteur der Zeitschrift "Opernwelt", über die jährliche Kritiker-Umfrage, bei der München abgeräumt hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.