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Opernhaus Zürich
Rameaus „Hippolyte et Aricie“ als Familiendrama

Jean-Philippe Rameau schrieb mit 50 Jahren seine erste Oper. „Hippolyte et Aricie“ gilt zwar als ein Meisterwerk, wird aber selten aufgeführt. Das Opernhaus Zürich ist eine Inszenierung gelungen, die laut unserer Kritikerin alle Sinne berührt und die die mythologische Handlung klug erzählt.

Von Elisabeth Richter | 20.05.2019
    Szene aus der Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus "Hippolyte et Aricie" am Opernhaus Zürich
    Szene aus der Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus „Hippolyte et Aricie“ am Opernhaus Zürich (Opernhaus Zürich/T + T Fotografie_Toni Suter)
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Aricie, 1. Akt, 2. Szene
    Mit der Ehe von Theseus und Phädra steht es nicht zum Besten. Nicht nur, dass Phädra Hippolyte, Hippolytos, ihren Stiefsohn, begehrt, Theseus, so interpretiert es Regisseurin Jetske Mijnssen, hatte offensichtlich zu dem Zeus-Sohn Perithoos ein homoerotisches Verhältnis.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Aricie, 1. Akt, 2. Szene
    Zu den Klängen der Ouvertüre sehen wir in einem nach einer Seite offenem Tempelrund mit einem doppelten Säulengang drumherum drei Familiengenerationen an einer festlichen Tafel sitzen: Das Paar Hippolytos und Aricia repräsentiert die jüngste Generation, Theseus und Phädra die Eltern-Generation, sowie Diana und Neptun, Theseus Vater, die Großeltern-Generation. Aber da ist eben noch Perithoos, den Theseus heftig liebt und küsst, so zeigt es Jetske Mijnssen.
    Das erklärt auch, warum sich Theseus im zweiten Akt von Rameaus Oper in die Unterwelt aufmacht, um Perithoos zu retten. Die beiden jungen Männer hatten zuvor tollkühn Persephone, die Unterwelts- und Fruchtbarkeitsgöttin aus dem Hades entführen wollen, doch nur Theseus kam wieder zurück.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Thésée, 2. Akt, 1. Szene
    Familiendrama, Generationenkonflikt und Liebe
    Jetske Mijnssen liest aus der mythologischen Geschichte zum einen Generationenkonflikt und Familiendrama heraus und zum andern ein Kaleidoskop unterschiedlichster Spielarten von Liebe. Da ist die jugendliche, gegenseitige Zuneigung zwischen Hippolytos und Aricia. Sie ist die einzige Überlebende einer von Theseus einst ausgelöschten Familie. Sie soll keine Nachkommen haben und soll zu Beginn der Oper zur Priesterin Dianas geweiht werden, was Hippolytos zu verhindern sucht.
    Stiefmutter Phädra gerät daher außer sich, aber Diana hält ihre schützende Hand über das junge Paar. Phädra hofft Hippolytos dennoch zu gewinnen, wenn sie ihm die Krone anbietet. Denn sein Vater Theseus sei dem Freund Perithoos in die Hölle gefolgt.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Pluton, Chor der Höllengeister 2. Akt, 3. Szene
    Auch die Hölle spielt in dem antiken Tempel- und doppelten Säulen-Rund von Ben Baurs ungeheuer subtil eingesetzter Drehbühne. Riesige schwarze, krähenartige Vögel – es sind Sänger, Statisten, Tänzer mit Vogelköpfen – lassen den weiß gekleideten Theseus erschauern. Auf einem Seziertisch liegt der tote Freund mit offenem Bauch, aus dem die Eingeweide quellen.
    Hippolytos leidet mit seinem gequälten Freund. Hier wie an vielen anderen Stellen dieser so feinsinnig behutsamen Aufführung nutzt Regisseurin Jetske Mijnssen mit ihrem Choreografen Kinsun Chan die zahlreichen Tanzsätze der Oper zu einer Reflektion der Handlung. Perithoos erwacht zum Leben und tanzt.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Parzen 2. Akt, 4. Szene
    Und da sind noch die so wichtigen drei Parzen, die - bei Rameau männlichen – Schicksalsgötter. Sie treten in Zürich als schwarze Priester auf, die Theseus sein unausweichliches Los verkünden. Er dürfe zwar die Hölle der Unterwelt verlassen, werde sie aber in seinem eigenen Haus wieder finden. Einmal mehr dreht sich das Tempelrund, wir blicken in Theseus’ düsteres Heim, die Stühle um den Tisch haben Feuer gefangen. Diese Inszenierung berührt wirklich alle Sinne.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Phèdre, Chor 1. Akt, 4. Szene
    Unterdessen hat Phädra alles auf eine Karte gesetzt, sie beschwört die Liebesgöttin Venus Hippolytos umzustimmen. Doch dieser hält zu Aricia, die von Phädra angebotene Krone interessiert ihn nicht, und auch Phädras Liebesgeständnis lässt ihn kalt. Als sich Phädra darauf mit einem Dolch töten will, versucht Hippolytos es zu verhindern. Nur just in dem Moment erscheint der tot geglaubte Theseus. Er hält seinen Sohn für Phädras Geliebten und bittet seinen Vater Neptun darum Hippolytos zu vernichten. Tatsächlich wird Hippolytos auf der Flucht mit Aricia von einem Meeresungeheuer verschlungen, worauf Phädra sich das Leben nimmt.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Premier und deuxième Air pour les Matelots Divertissement, 3. Akt
    Piccolo-Flöten, Schlagwerk und Windgeräusche
    Effektvoll setzt Rameau hier Piccolo-Flöten, Schlagwerk und Windgeräusche ein, oder die düsteren Fantasien der leidenden Liebenden finden mit tiefen Streichern und Fagotten ein Pendant. In den Choreografien bevölkert auch tänzerisch allerlei Furcht erregendes Getier die Bühne. Zu den immer wieder auftauchenden schwarzen Vögeln gesellt sich auch einmal ein Tänzer mit Wildschweinkopf.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Phèdre, Chor 1. Akt, 4. Szene
    Im Sterben hat Phädra Theseus ihre Liebe zu Hippolytos gebeichtet und diesen entlastet. Nun will Theseus seinem Leben ein Ende setzen, wird aber von Neptun daran gehindert, denn Hippolytos wurde von Diana gerettet. Theseus darf seinen Sohn nie wiedersehen. Als Hippolytos dann am Schluss als neuer König gefeiert wird, hat er für seine Aricia kaum noch einen Blick. Das Familiendrama kann von neuem beginnen.
    Musik: Rameau, "Hippolyte et Aricie", Aricie, Hippolyte 1. Akt, 2. Szene
    Selten wurde eine durchaus verworrene mythologische Handlung so zwingend, so subtil und klug erzählt. Das muss betont werden, denn französische Barockoper ist wegen der langen deklamatorischen Rezitativ-Passagen nicht leicht zu inszenieren und kann schnell ermüden. Nichts von alle dem in Zürich. Zu dieser so beglückenden Regie kam aber auch eine ungeheuer espritvolle musikalische Umsetzung durch die mehr als energiegeladene Dirigentin Emmanuelle Haïm am Pult des opernhauseigenen Orchestra La Scintilla. Sie sorgte, trotz gelegentlich ein wenig forcierter Tempi, für eine sehr durchsichtige Partitur und brachte die so farbige Instrumentation Rameaus zum Leuchten.
    Erstklassige Besetzung
    Auch sängerisch war die Produktion erstklassig besetzt. Besonders überzeugten der Tenor Cyrille Dubois als fein und distinguiert singender Hippolytos, der kernig-facettenreiche Bariton Edwin Crossley-Mercer, sowie Melissa Petit als Aricia mit ihrem lichten Sopran und Stéphanie d’Oustrac als Phädra mit einem dunkel-diabolischen, aber leuchtenden Mezzosopran.