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"Opfer einer unverantwortlichen Nuklearpolitik"

Wo abgerüstet wird, entsteht atomarer Müll und atomarer Müll entsteht auch dort, wo eine zivile Nutzung der Atomkraft stattfindet. Russland will diese zivile Nutzung, das ist aus der Energie-Skizze zu lesen, die Russlands Präsident in dieser Woche gezeichnet hat. Doch es gibt Proteste.

Von Andrea Rehmsmeier |
    "Ich bin im Dorf Musljúmovo geboren, und die radioaktive Strahlung hat meine Gesundheit ruiniert. Mein Vater ist mit 45 Jahren an Krebs gestorben, meine Mutter mit 64. Ich selbst habe auch Geschwüre im Bauch, vier Operationen hatte ich schon, aber sie wachsen immer wieder nach. Ich bekomme 143 Rubel Zuschuss für Rehabilitationsmaßnahmen, das sind fünf Euro! Und ich muss fast das ganze Jahr im Krankenhaus verbringen!"

    Die Frau trägt Arbeitskleidung, ihr Gesicht ist vom Wetter gegerbt: eine von etwa 200 Demonstranten vor dem Gebäude der Bezirksregierung von Tscheljabinsk am Süd-Ural. Angereist sind sie aus den Dörfern rund um die skandalträchtige Nuklearanlage Mayak. Hier war im Jahr 1957 ein Fass mit 80 Tonnen hochaktivem Atommüll explodiert: damals eine der bestverschwiegensten Nuklearkatastrophen – und Auftakt zu weiteren Schlampereien und mutwilligen Anordnungen, die zum Austritt einer immensen Menge Radioaktivität im Süd-Ural geführt haben. Doch längst nicht alle Dörfer wurden damals evakuiert. Heute sollen allein im Gebiet Tscheljabinsk eine halbe Million Menschen unter der Strahlenkrankheit leiden. Die Betroffenen haben sich zu einer der aktivsten Anti-Atom-Bewegungen Russlands zusammengetan – zornige Menschen, die finanzielle Entschädigung fordern, und die die Strahlung mehr fürchten als die Staatsmacht. Zu ihren Vorkämpfern gehört die junge Russin Nadjéschda Kutjepóva, Gründerin der Bürgerrechts-Organisation "Planet der Hoffnungen".

    "Unsere Organisation vertritt die Interessen der Menschen, die im russischen Rechtssystem gescheitert sind. Die Interessen der Liquidatoren, die nach dem Atom-Unfall das verstrahlte Gelände aufräumen mussten – sonst werden die niemals eine Entschädigung bekommen. Die Interessen der Dorfleute, die an der Tjetscha wohnen. Von unserer Regierung bekommen die immer nur zu hören: Na gut, der Fluss ist radioaktiv. Also geht da nicht hin, schwimmt nicht drin und trinkt nicht draus. Und am allerbesten wäre es, wenn ihr gleich aufhört zu leben."

    Bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringt Kutjepóva die Anliegen der Strahlenopfer. Zwar wird das an der Nuklearpolitik der Regierung nicht viel ändern: Vielmehr plant sie den Bau von bis zu 40 neuen Atomkraftwerken und auch Medwedews "Energie-Strategie", die er in dieser Woche ankündigte, schließt die zivile Nutzung der Atomkraft ausdrücklich ein. Außerdem entwickelt Russland – ungeachtet der anstehenden Abrüstungsverhandlungen mit Amerika – immer neue strategische Atomwaffensysteme. Aber immerhin: Jede Information, die die Anti-Atom-Bewegung verbreitet, jedes Gerücht, das sie streut, trifft bei der ohnehin beunruhigten Bevölkerung auf offene Ohren. Das Protestpotenzial zwingt Moskau, seine Politik offen zu legen und zu rechtfertigen. Dass die Regierung heute detaillierte Rechenschaftsberichte über ihren Umgang mit Atommüll vorlegt, ist allein dem Engagement von Umweltgruppen zu verdanken.

    Im Theatersaal des Kulturzentrums im Dorf Karábolka prangt ein riesiges Lenin-Konterfei: Die Bewohner des radioaktiv verstrahlten Geländes haben eine Anhörung mit Vertretern der Bezirksregierung erzwungen. Die Ministeriensprecher geben ihre Stellungnahmen ab.

    "Liebe Kollegen, unser Sozialsystem bietet finanzielle Unterstützung für Bedürftige. Aber wenn Sie es in Anspruch nehmen wollen, dann müssen Sie einen Antrag stellen. Und wenn Sie dazu zu krank sind, dann bitten Sie Ihre Verwandten oder eine Hilfsorganisation! So ist nun einmal der Rechtsweg, und der gilt für alle!"

    Je mehr die Staatsbeamten versprechen - medizinische Versorgungsstationen, Brunnen für unverseuchtes Trinkwasser, Gasanschluss – desto unruhiger wird es im Saal. Die Moderatorin der Anhörung hat alle Mühe, Ruhe zu schaffen. Gulschará Nadschibulovna, Bürgerrechtlerin und Bezirksabgeordnete, ist selbst Strahlenopfer. Beherzt greift sie zum Mikrophon.

    "Unsere Forderung an den russischen Präsidenten und an die Atomlobby dieser Welt lautet: Entschädigung für alle Strahlungsopfer! Die Regierungen sollen die volle Verantwortung übernehmen, wenn sie erst radioaktive Materialien anreichern und hinterher nicht wissen, wohin mit ihrem Atommüll. Wir sind die Opfer einer unverantwortlichen Nuklearpolitik. Und darum sind wir, die Bürger von Karabolka, der Beginn einer Bewegung, die bald die ganze Welt erfassen wird."