Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verhalte sich wie jemand, der während eines laufenden Fußballspiels die Regeln ändern wolle, sagte Pir. Denn schließlich habe er der EU selbst eine Reform der Anti-Terror-Gesetze in Aussicht gestellt. Nun aber nutze er dieselben Gesetze, um hart gegen Kurden, Journalisten und andere Regierungskritiker vorzugehen. "Das sind schizophrene Zustände", kritisierte Pir, der lange in Duisburg als Unternehmer gearbeitet hat.
Deshalb sei es richtig, wenn die EU hart bleibe und auf einer Änderung der Gesetze beharre. "Wir dürfen Rechtsstaatlichkeit nicht opfern für Visafreiheit." Zuletzt hatte sich das Europaparlament geweigert, über eine Visafreiheit zu beraten, solange die Regierung in Ankara nicht alle Bedingungen des Flüchtlingsdeals mit der EU erfüllt. Wie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz im Deutschlandfunk sagte, sind derzeit fünf von 72 Voraussetzungen nicht erfüllt. Dazu zählt auch eine Reform des Datenschutzes.
Das Interview in voller Länge:
Martin Zagatta: Platzt der umstrittene Flüchtlingsdeal mit der Türkei? Hält Ankara seine Zusagen gegenüber der EU nicht ein, oder verlangt die EU einfach zu viel von der türkischen Führung? Der türkische Abgeordnete Ziya Pir ist jetzt am Telefon, er sitzt für die prokurdische Oppositionspartei HDP im Parlament und hat lange in Deutschland gelebt. Guten Morgen, Herr Pir!
Ziya Pir: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Zagatta: Das ist ja ein ziemliches Geschacher, was wir da in den letzten Wochen erlebt haben mit einem Deal, also die Türkei lässt viel weniger Flüchtlinge durch, hält der EU, wenn man so will, die Flüchtlinge vom Hals und bekommt im Gegenzug Milliarden und die Visumfreiheit. Also Türken dürfen demnächst ohne Visum in die EU reisen. Dafür, und das ist der Knackpunkt jetzt, soll die Türkei ihre weitreichenden Antiterror-Gesetze entschärfen und will das offenbar nicht. Herr Pir, ist das eine unzumutbare Einmischung der EU in innere Angelegenheiten der Türkei, so wie Präsident Erdogan das jetzt sagt? Wie sehen Sie das?
Pir: Also von Unzumutbarkeit sollte man nicht reden. Wenn zwei Staaten beziehungsweise die EU und die Türkei einen Vertrag miteinander machen und über etwas verhandeln, dann muss man sich daran halten, was man versprochen hat. Vor ein paar Monaten hat die EU gesagt, wenn die Türkei die 72 Kriterien erfüllt, dann werden wir die Visa-Freiheit gewähren, und die Türkei hat vor Monaten gesagt, ja, wir werden das machen, und da wusste die Türkei auch, dass man auch über das Antiterror-Gesetz reden will und den Begriff des Terrors anders definieren muss. Das wusste die Türkei damals. Jetzt auf einmal, wo nur noch fünf Kriterien übrig geblieben sind, kann man nicht einfach sagen, okay, ich wusste das nicht beziehungsweise ich möchte das jetzt doch nicht machen. Das geht nicht. Der Erdogan hat vor Jahren schon mal gesagt über die EU, die EU verhält sich wie, wenn man ein Fußballspiel anfängt und in der Pause dann die Regeln ändert, und genau das macht er jetzt momentan. Vor ein paar Monaten hat man gesagt, die 72 Kriterien sind zu erfüllen, und jetzt auf einmal während des Spiels oder gegen Ende sagt er, nee, ich will die Regeln ändern. Das geht nicht.
Zagatta: Also in der Sache geben Sie der EU recht, aber täuscht denn der Eindruck, dass die Mehrheit der Türken, dass die Bevölkerung in dieser Frage hinter Erdogan steht?
"Die Türkei war schon immer auf Papier ein Demokratieland"
Pir: Wir haben in der Türkei eine Situation, wo die Türkei sagt, Terrorbekämpfung momentan, wir sagen, das sind kriegsähnliche Zustände hier in Kurdistan, und die Bevölkerung sehr gespalten und sehr empfindlich momentan. Deswegen kann man sagen, dass die große Mehrheit hinter Erdogan steht, weil die ziemlich zerrüttet ist momentan, aber normalerweise, wenn man sich das Antiterror-Gesetz anguckt, müsste die Bevölkerung, wenn sie darüber Bescheid weiß, dann würde die Mehrheit der Bevölkerung sagen, okay, diesen Terrorbegriff, den müssen wir doch ändern.
Zagatta: Das Problem ist ja offenbar, dass diese Antiterror-Gesetze auch gegen Wissenschaftler angewandt werden, gegen Journalisten. Aus Ihrer Sicht, aus der Sicht der türkischen Opposition, hat Erdogan dem Rechtsstaat in der Türkei da irgendwie ein Ende gemacht oder war die Türkei nie ein Rechtsstaat?
Pir: Die Türkei war schon immer auf Papier ein Demokratieland, also es gibt hier Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf Papier, aber der Erdogan hat vor, ich glaube um 2010, 11 begonnen, die Rechtsstaatlichkeit außer Gefecht zu setzen. Momentan ist es so, das Recht gilt hier nicht, es gilt das, was er sagt. Ich war vor 36 Stunden ungefähr im Gericht, da hat auch der Richter entschieden, und er hat seine Entscheidung gar nicht vorgelesen, sondern auf Papier da hingelegt und ist weggegangen, weil er sich geschämt hat über die Entscheidung. Die Entscheidungen werden in Ankara gefällt, und die Richter haben das einfach vorzulesen momentan. Das war ein Prozess gegen einen Parteivorsitzenden hier in Diyarbakir. Genau dasselbe passiert mit Journalisten und mit Wissenschaftlern leider auch. Also auf Papier haben wir noch Rechtsstaatlichkeit, aber in der Praxis leider schon lange nicht mehr.
"Die Türkei hat ihre Aufgaben nicht so zu hundert Prozent erfüllt"
Zagatta: Verstehe ich Sie richtig, aus Sicht der Opposition hat die EU dann recht, Sie würden sich das wünschen, hat die EU recht, wenn oder dass sie hart bleibt?
Pir: Also wir als HDP möchten natürlich die Visa-Freiheit für unsere Bevölkerung, und zwar möglichst schnell. Das ist klar, aber auf der anderen Seite, die Kriterien, die sind in Ordnung, die muss man einfach erfüllen in der Türkei, vor allem, was den Terrorbegriff anbelangt. Hier wird ja jeder mit Terror verdächtigt, verdächtigt, Terrorist zu sein. Das ist ein schizophrener Zustand in der Türkei, und ich bin dafür, und die HDP ist dafür, dass diese Terrorgesetze sofort geändert werden müssen, und da muss die EU hart bleiben. So unfair sich das vielleicht für die Bevölkerung selber anhört, es ist aber so, die Terrorgesetze müssen geändert werden, und wir dürfen Rechtsstaatlichkeit nicht opfern wegen Visumfreiheit.
Zagatta: Nun soll aber ein Berater Erdogans schon ganz offen der EU gedroht haben, also bei einem Scheitern dieser Verhandlungen, wenn die scheitern, dann schicken wir euch wieder Flüchtlinge. Halten Sie das für realistisch?
Pir: Das machen wir die ganze Zeit schon. Also ich habe diesen Tweet von diesem Burhan Kuzu selber gelesen, der hat gestern noch mal eins geschickt, hat das etwas relativiert, aber es ist noch schlimmer geworden. Das macht ja die Türkei schon die ganze Zeit in den Verhandlungen mit Europa. Vor allem mit Frau Merkel hat Erdogan das wohl auch ziemlich deutlich öfters gesagt – also entweder wir machen das oder ich schicke die Flüchtlinge, und die Türkei hat ihre Aufgaben, Flüchtlinge nicht über die Ägäis zu schicken, nicht so zu hundert Prozent erfüllt. Die haben hier und da mal ein Auge zugedrückt, und Flüchtlinge sind über die Ägäis gekommen.
Zagatta: Also die Gefahr ist …
Pir: Also das ist nicht nur eine Drohung, das ist Realität momentan.
Zagatta: Aber in geringerer Anzahl melden unsere Korrespondenten, es kommen wenige Menschen jetzt im Vergleich nach Griechenland. Gehen Sie davon aus, dass dieser Flüchtlingsdeal dann wieder platzen könnte und dass wir eine ähnliche Situation bekommen, wie vor dieser Abmachung?
Pir: Das ist nicht wünschenswert, aber ich glaube die Europäische Union und die Türkei werden sich irgendwo auch einigen. Der Schulz macht momentan wenige Anzeichen, der bleibt ganz hart, das finde ich auch richtig so.
Zagatta: Der Präsident des Europaparlaments, ja.
Pir: Ja, genau. Ich finde das auch richtig so, aber irgendwo werden die sich auch einigen, glaube ich.
Zagatta: Sagt der türkische Abgeordnete Ziya Pir, der für die prokurdische Oppositionspartei HDP im Parlament sitzt. Herr Pir, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch heute Morgen!
Pir: Ich danke! Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.