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Opus Magnum des Henrik Ibsen

Peer Gynt, der Bauernsohn, Abenteurer, Sklavenhalter und reuige Sünder: Ursprünglich war er der Held eines Gedichts, das Henrik Ibsen dann für die Bühne umarbeitete. Viele Regisseure haben Peer Gynt inszeniert, aber noch nie 13 Regisseure auf einmal. In Berlin gab es jetzt das Experiment in den Sofiensälen zu sehen.

Von Eberhard Spreng | 24.06.2006
    " Ich bin Fanny und ich bin hergekommen um zu vergessen. Ich möchte heute abend mich völlig in Rausch und Ekstase verlieren. Wie ich das mache, weiß ich noch nicht. "

    So als ginge es um eine dieser Fernsehshows, in denen man seinen Traumpartner finden soll, zeigt die Performance-Gruppe "She She Pop" eine alberne, stickig erotische Persiflage. Auf drei Videoleinwänden sind erst die Lippen, dann die drei Gesichter der Performerinnen, dann Masken, Objekte und Instant-Photos zu sehen - Zeugnisse einer vom Fernsehkonsum korrumpierten Erotik, in der Ekstase nie und nimmer erfahren werden kann. She She Pop ist eine von 13 Künstlergruppen, bzw. Einzelkünstler, die sich zu einem erstaunlichen Multi-Artisten-Spektakel zusammengefunden haben, das das Opus Magnum des Henrik Ibsen, man ahnte es, nicht wirklich als Geschichte erspielt, sondern zu einer Revue macht, innerhalb des in den Sophiensälen ohnehin verherrschenden ästhetischen Spektrums. Uwe Schmieder muss sich also den verschiedenen theatralischen, choreografischen, videografischen und performativen Konzepten anpassen, wie ein orientalischer Lastenträger an die gerade angesagte Transportaufgabe und er tut es mit sportlichem Einsatz.

    Suzanne Truckenbrodt, die für die Peer Gynt Revue die künstlerisch Gesamtleitung verantwortet, hat darauf geachtet, dass immerhin bestimmte Motive, Handlungsstränge und dramaturgische Grundfarben jeweils bei einem Künstler verbleiben. So wird das Auseinaderdriften und die völlige Zusammenhanglosigkeit etwas vermieden. Dirk Cieslak zeigt uns also die Hochzeitsszenen, Tilman Köhler verantwortet alle Szenen, die den Protagonisten in seiner Beziehung zu seiner hier mit Darstellerinnen verschiedenen Alters vervielfachten Mutter zeigen. Nur einmal hingegen ist in der oft genug braven Abfolge von Spiel und Video der Beitrag des Choreografen Arthur Kuggeleyn zu sehen, mit dem das immer im Hintergrund mitschwingende Thema der Peerschen Lebensekstase szenisch ernstgenommen wird.

    Zu einem Marsch, den man, gesampelt, aus der "Halle des Bergkönigs" aus den Peer Gynt-Suiten von Edvard Grieg extrahiert hat, zucken drei Tänzerinnen in einer dunklen Wand. Halb Puppen, halb Bacchantinnen schwenken sie hin und her, noch so eben auf den eigenen Beinen und schon fast ganz Opfer der Schwerkraft. Hier ist eine Mischung von Bewusstlosigkeit und Verzückung angedeutet, ohne die der Beginn des Stückes über den Lügner und Prahler ein müdes Papierwerk bliebe.

    Wenn aber, nach den jugendlichen Ausschweifungen des Anfangs, im vierten Akt die Karriere des Globalkapitalisten zu erzählen und Peer Gynt u.a. mit Sklavenhandel reich geworden ist, dann haben die Dokumentartheaterkünstler Hans-Werner Kroesinger und der Polit-Theatermacher René Pollesch das Wort. Der eine appelliert an die berühmte Inszenierung von Peter Steins Schaubühne im Zeitalter des Mitbestimmungstheaters und begibt sich auf die szenische Meta-Ebene, da wo man nicht über Peer Gynt nachdenkt, sondern über das Theater, der andere reflektiert in einem seiner unnachahmlichen, zwischen Zufall und Sozio-Psycho-Ökonomie hin-und herspringenden Kurzschlusstexten über das Ausgedachte und das wirkliche Sein im Leben, also durchaus über ein Thema, das aus Peer Gynt stammen könnte. Auf dieser Bühne hat Kapitalismus mit Reflexion, Eros mit Ekstase, der Teufel mit Verführung und die Partnersuche mit Fernsehen zu tun; in so fern ist hier die Welt noch in Ordnung, sind wir vor gedanklichen Überraschungen sicher.

    Nur eine, die Sängerin Jelena Kuljic, die David Marton als Solveig auftreten lässt, zeigt das Land hinter dem Peer Gynt Land. Da muss es noch andere Töne geben, andere Gefühle, ein ganz anderes, autonomes, vom der Welt-Reiz-Verführung nicht so leicht zu eroberndes Sein. Vor allem macht sie aber auch indirekt deutlich, dass es immer schon falsch war, den Peer Gynt aufführen zu wollen, ohne an Musik zu denken. Dass Grieg und Ibsen sich über das Musik-Theater-Projekt Peer Gynt vor der Uraufführung zerstritten, hat das Stück zu einem theatralischen Rumpf-Kunstwerk gemacht. Wie sehr es nach Musik lechzt und wie gut die ihm tut, das immerhin hat der lange, bunte und oft auch alberne Abend in kurzen Momenten vorgeführt.