Archiv


Orakel vom virtuellen Stammtisch

Physik. - Politik wird am Stammtisch gemacht - so heißt es zuweilen etwas ironisch in der öffentlichen Diskussion. Physiker aus Mainz und Regensburg haben diesen Spruch nun ziemlich wörtlich genommen. Sie programmierten im Computer eine Art virtuellen Stammtisch und hoffen, damit das Verhalten von Wählern und Parteimitgliedern zu simulieren. Erste Ergebnisse fallen verblüffend aus und spiegeln die Realität wider - zumindest teilweise.

Von Frank Grotelüschen |
    Wir bauen auf Daten auf und stellen physikalische Simulationen an. Das sind naturwissenschaftliche Vorgänge, und das hat nichts mit Meinungsumfragen zu tun.

    Christian Hirtreiter von der Universität Regensburg legt Wert darauf, nicht mit Meinungsforschern in einen Topf geworfen zu werden. Nein, mit den Methoden der Physik will er dem deutschen Wahlverhalten auf die Spur kommen. Dazu aber brauchten er und sein Kollege Johannes Schneider erst mal möglichst viele Daten. Also trugen sie eine Unmenge von Zahlen zusammen: Die Wahlergebnisse seit 1949 und die Entwicklung der Mitgliederzahlen bei den politischen Parteien - und zwar für ganz Deutschland und für den Freistaat Bayern. Mit diesem Datenwust fütterten die beiden den Rechner, dröselten das Ganze auf nach Zeitreihen und Korrelationen - und stießen, so Johannes Schneider, auf bislang verborgene Zusammenhänge.

    Wenn eine Partei zwei Mal in Folge bei den Landtagswahlen zugelegt hat, dann hat sich ein neuer Trend in den Mitgliedszahlen ergeben. Und genauso, wenn eine Partei zwei Mal in Folge an Prozentpunkten verloren hat. Beispielsweise ist der Aufwärtstrend in den Mitgliederzahlen bei der CSU gestoppt worden, nachdem die CSU zwei Mal in Folge bei den Landtagswahlen in%en verloren hat.

    Ähnliches passierte auch der SPD - weshalb die Forscher glauben, auf eine Gesetzmäßigkeit gestoßen zu sein. Doch Schneider und Hirtreiter wollten noch mehr. Sie fragten sich, ob das Wählerverhalten womöglich bestimmten physikalischen Vorgängen ähnelt und sich damit per Computer simulieren lässt. Für ein Zweiparteiensystem wie in den USA kann das so aussehen:

    Beispielsweise kennt man in magnetischen Systemen den Spin. Hier ist es so, dass ein Spin zwei Einstellungen haben kann: Er kann nach oben schauen oder er kann nach unten schauen. Nun kann ich das als Physiker gleichsetzen mit, dass wenn er nach oben schaut, dann beispielsweise für die Republikaner ist. Wenn er nach unten schaut, ist er für die Demokraten.

    Das Entscheidende: Die Spins beeinflussen sich. Ein Spin kann seinen Nachbarn dazu bewegen, umzukippen und in seine Richtung zu zeigen. So läuft - grob gesagt - der Prozess der Magnetisierung ab. Vor einiger Zeit hatte ein polnischer Forscher diese simple Magnettheorie auf das US-amerikanische Zweiparteiensystem übertragen - mit einigem Erfolg. Er konnte das langfristige Verhalten der Wähler recht gut simulieren. Schneider und Hirtreiter haben das Modell nun verfeinert, man kann es getrost als Stammtischtheorie bezeichnen. Die Forscher gehen von einem großen runden Tisch aus, um den herum Leute sitzen und über Politik diskutieren.

    Und nun greife ich zufällig ein paar von nebeneinander sitzenden Leuten heraus. Wenn diese beiden Leute einer Meinung sind, dann können sie ihre äußeren beiden Tischnachbarn überzeugen, ebenfalls dieser Meinung zu sein.

    Einige der virtuellen Stammtischler sind Mitglied einer Partei. Dank größerer Überzeugungskraft können sie ihre Nachbarn besonders oft herumkriegen. Sitzen jedoch Mitglieder verschiedener Parteien direkt nebeneinander, so können sie sich nicht gegenseitig überzeugen - eine plausible Annahme. Schließlich berücksichtigen die Forscher noch, dass die Mitgliederzahlen nicht konstant sind, sondern sich mit den Wahlergebnissen ändern. Im Modell waren also auch Parteiein- und -austritte erlaubt. Dann starteten die Physiker ihr Computerprogramm: Am digitalen Stammtisch wurde im Zeitraffer debattiert und überzeugt, wurde gewählt und die Parteizugehörigkeit gewechselt. Das Ergebnis:

    Dann erhalten wir einen Staat ähnlich wie Bayern. Sprich: Wir haben relativ stabile Mehrheitsverhältnisse. Und das über eine sehr lange Zeitperiode hinweg. Wir haben, wenn man es etwas spitz formulieren will, virtuell einen CSU-Staat geschaffen.

    Damit also scheint wissenschaftlich bewiesen, was wir schon lange ahnten:

    In Bayern ist natürlich wie immer alles anders im Vergleich zur Bundesrepublik.

    Die Verhältnisse im Bundestag, also mit wechselnden Mehrheiten, kann das Modell noch nicht vernünftig nachbilden. Deshalb wollen Hirtreiter und Schneider noch mehr Daten sammeln und analysieren: die Wahlergebnisse der anderen Bundesländer, aber auch Zahlen über Altersstruktur und soziale Schichtzugehörigkeit von Wählern und Parteigenossen. Und dann, so hoffen die Forscher, könnten durchaus konkreten Vorhersagen herauskommen, wie sich Mitgliederzahlen und Wählerverhalten in Zukunft entwickeln werden.