Freitag, 03. Mai 2024

Archiv


Orang-Utans können es auch

Paläontologie. – Der aufrechte Gang ist nach Ansicht der Paläoanthropologen eines der Kennzeichen des Menschen. Manche Fossilien wurden allein deswegen zu Vormenschenfossilien geadelt. Einer aktuellen Studie in der jüngsten "Science" zufolge muss das aber nicht stimmen, denn auch Orang-Utans können bei Bedarf auf zwei Beinen laufen. Einige frühe Verwandte des Menschen könnten so ihren Rang verlieren.

Von Dagmar Röhrlich | 01.06.2007
    Vor sechs oder sieben Millionen Jahren soll es geschehen sein: Damals sollen unsere Ahnen in Afrika den ersten Schritt zur Menschwerdung vollzogen haben: Lange bevor sich ihr Gehirn zu entwickeln begann, stellten sie sich auf die Hinterbeine. Das ist die gängige Hypothese der Paläoanthropologen, aber jetzt könnten Orang-Utans auf Sumatra sie eines Besseren belehren. Robin Crompton von der Universität Birmingham.

    "”Die Orang-Utans leben heute noch in der traditionellen Nische, in der die Menschenaffen vor vielen Jahrmillionen entstanden sind und fressen in tropischen Wäldern reifes Obst. Wir haben sie über Jahre im Gunung Leuser Nationalpark auf Sumatra beobachtet und festgestellt, dass sich Orang-Utans dabei in den Baumkronen aufrecht auf zwei Beinen laufend fortbewegen.""

    Entdeckt ein Orang-Utan an einem dünnen Zweig weit draußen eine süße Frucht, balanciert er über etwas stärkere Äste auf den Hinterbeinen dorthin, wobei er sich mit einer Hand an den Zweigen festhält. Mit der anderen angelt er nach dem Obst. Crompton:

    "Dabei ist ihre Körperhaltung in den Knie- und Hüftgelenken aufrechter als wenn sie mit zwei Beinen über einen dickeren Ast balancieren."

    In schwierigem Terrain halten sich Orang-Utans aufrecht – fast so wie wir. Dabei sind sie unter den Menschenaffen unsere entferntesten Verwandten, denn unsere Wege trennten sich schon vor mindestens acht Millionen Jahren. Wenn wir also im Grunde so laufen wie sie, ist der Trick mit dem zweibeinigen Laufen sehr viel älter als gedacht – und keineswegs die "Erfindung", die uns von den Affen unterscheidet. Crompton:

    "”Nach traditioneller Sicht entwickelten die Urahnen der Menschen den aufrechten Gang aus dem ‚Knöchelgang’, mit dem sich Gorillas und Schimpansen auf dem Boden bewegen: Die laufen O-beinig und stark gebeugt, wobei sie ihre Fingerknöchel aufsetzen. Mit dieser Hypothese war ich nie besonders glücklich, weil beide Fortbewegungsarten sehr verschieden sind. Alle Affen zeigen Anpassungen an diese vorgebeugte Körperhaltung und laufen sehr oft auf allen vieren.""

    Für unsere Ahnen wäre es schwierig gewesen, sich aus dem Knöchelgang heraus aufzurichten. Robin Crompton entwirft jetzt ein anderes Bild. Vor langer Zeit erfanden die Ahnen aller Menschenaffen auf den Bäumen die Zweibeinigkeit. Vor etwa zwölf Millionen Jahren stiegen ihre Nachfahren in Afrika auf den Boden herab. Der Grund: Durch einen Klimawandel lichteten sich die Urwälder. Unsere eigenen Vorfahren spezialisierten sich auf den neuen Lebensraum, perfektionierten die geerbte Lauftechnik zum aufrechten Gang. Crompton:

    "”Die Schimpansen und Gorillas wählten einen anderen Weg. Sie kletterten die Bäume hinauf und hinab und nutzten den Boden nur zum Baumwechsel. Dabei sind O-Beine und verlängerte, kraftvolle Arme ideal. Aber wer mit so einem Körperbau über die Erde läuft, stützt sich am besten mit den Händen ab. So entstand der Knöchelgang. Das zweibeinige Laufen aber ist unserer Meinung nach viel älter.""

    Anatomen wie Paul O'Higgins von der Universität von York in Heslington finden die neue Hypothese sehr viel logischer als die alte. O’Higgins hat für Science die Arbeit seiner Kollegen beurteilt. Das zweibeinige Laufen wäre damit keine exklusive Errungenschaft der menschlichen Sippschaft mehr. O’Higgins:

    "Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird es als zentraler Punkt bei der Menschwerdung angesehen, der zeitlich vor der Entwicklung des großen Gehirns liegt. Er gilt als so zentral, dass er zur Abgrenzung unserer Stammlinie von denen der Menschenaffen dient. In der neuen Hypothese reicht die Zweibeinigkeit als Beweis dafür nicht mehr aus. Vor allem über die ältesten Fossilien werden wir neu nachdenken müssen. Die Entdeckung wird eine große Debatte in der Paläoanthropologie auslösen."

    Wenn das stimmt, geht der entscheidende Anhaltspunkt für die Menschwerdung verloren. Beispiel: Orrorin, der "Millenium-Man". Er lebte vor mehr als sechs Millionen Jahren und wurde als Vormensch eingestuft, weil er auf zwei Beinen lief. Jetzt könnte er genauso gut unser Vorfahr sein wie der der Schimpansen oder der von Schimpansen und Menschen. Die Debatte verspricht also hitzig zu werden.