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Orchester im Treppenhaus
Musik im Kontakt mit der Wirklichkeit

Ein Konzert, das den toten Hühnern der größten Geflügelschlachterei Europas einen Namen geben will - das hat ein junges Orchester aus Hannover bei Wietze veranstaltet. Solche "Notfallkonzerte" sollen nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern auch die Akzeptanz für Neue Musik erhöhen.

Von Alexander Kohlmann | 10.07.2014
    Ein Trompetenspieler in der Sonne.
    Das Orchester im Treppenhaus spielt vor Ort und will damit Musik und Gesellschaft näher zusammenbringen. (picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    "Wir freuen uns ganz besonders, dass wir heute wieder Besuch haben vom Treppenhausorchester, wir haben die ganze Zeit durchgehalten, jeden Montag hier standgehalten und freuen uns, dass wir heute wieder das Treppenhausorchester hier begrüßen können".
    Konzert an der größten Hühnerschlachtanlage Europas
    60 Kilometer vor Hannover. Am Rande des idyllischen Heide-Ortes Wietze haben vier Musiker mit Gartenstühlen ein Orchesterhalbrund gebildet. Hinter ihnen, am Rand der grünen Wiese, erhebt sich ein großer Zaun. Dahinter steht eine riesige, graue Halle. Das ist die größte Hühnerschlachtanlage Europas. Bis zu 200.000 Hühner werden hier täglich getötet. Das sind über 120 pro Minute.
    Vor den Musikern haben sich circa 30 Menschen versammelt. Es sind die letzten Mitglieder einer Bürgerinitiative. Sie konnten den Bau dieses Monstrums nicht verhindern und harren seit Jahren alleine in der Heide aus. Jetzt warten sie gespannt auf ein "Notfallkonzert". Ein "Notfallkonzert", das den toten Hühnern einen Namen geben soll.
    "Im Geflügelschlachthof von Wietze lassen täglich viele Tiere ihr Leben. In Massentierhaltung wurden sie ohne jegliche Rücksicht auf artgerechte Haltung herangezogen. Stellvertretend für alle Leidenden wollen wir in den nächsten drei Minuten ein paar von ihnen gedenken. Um sie von ihrer Anonymität in ihrem Status als bloße Ware zu befreien, soll jedes Huhn, an das wir denken, einen Namen erhalten. Und wir werden nach der Nennung für jedes ein kleines Ständchen spielen. Als symbolischer Lichtblick, in einem sonst düsteren und kurzen Leben. Berta, Aurel."
    Was zunächst wie eine schräge Geisterbeschwörung klingt, verfehlt seine Wirkung nicht. Im Spiel der Musiker werden die toten Hühnchen zu Individuen. Zu jedem verlesenen Namen entstehen Bilder im Kopf. Bilder von autonomen Wesen mit individuellen Eigenschaften.
    "Hermann, Jumper, Kicki."
    Nach drei Minuten ist alles vorbei und der Ort nicht mehr derselbe. Die Musik hat ihr Ziel erreicht, ein heiteres Nachdenken über das ernste Thema Massentierhaltung. Die Ironie, mit der das geschieht, steht dabei im krassen Gegensatz zu den Grabesminen der Bürgerinitiative, die ausschließlich auf den monströsen Hühnerschlachthof fixiert ist.
    Akzeptanz von neuen Kompositionen fördern
    Den Musiker dagegen geht es gar nicht nur um die tote Hühnchen, sondern auch um mehr Akzeptanz für neue Kompositionen. Mit Neuer Musik, die ihrer Natur nach aufrütteln soll und mit Gewohnheiten brechen will, lässt sich in Notfällen bestens intervenieren.
    "Die Grundidee ist ja erst mal, dass sozusagen Neue Musik nicht nur wichtig ist, sie wird ja sozusagen immer so als Nischenkultur bezeichnet, aber Neue Musik ist nicht nur wichtig, sondern sie ist so wichtig, dass man sogar die Welt damit retten kann",
    erklärt der Komponist Benjamin Scheuer, der die Musik für die "Notfallkonzerte" geschrieben hat. Gemeinsam mit dem Leiter des Orchesters und einem Dramaturgen hat er Orte überall in und um Hannover ausgesucht, an denen die Musik auf relevante gesellschaftliche Probleme trifft. Gespielt werden Konzerte für Flüchtlinge - am Hauptbahnhof. Gegen Feinstaub - an der Autobahn. Und für erneuerbare Energie auf dem Hannoveraner Opernplatz.
    Orchester im Treppenhaus
    Die beteiligten Musiker sind Mitglieder des Orchesters im Treppenhaus. Das hat sich zum Ziel gesetzt, Musik jenseits der elitären Orchester- und Konzerthäuser zu produzieren. Die Mitglieder sind Musik-Studierende und freischaffende Musiker mit viel Idealismus.
    "Unser Orchester hat sich ja gegründet, um klassische Musik so zu machen, dass man irgendwie einen Kontakt zu unserer Lebenswelt hat, das es nicht eine Museumskunst ist, sondern irgendetwas, was uns berührt oder mit uns zu tun hat und damit eine Kunstaktion zu machen, die auch die Neue Musik in einen anderen Blickwinkel setzt, nämlich als etwas, was nicht einfach nur abstrakt ist, etwas, das man nicht verstehen kann, und was für ein sehr kleines Elite-Publikum nur da ist, so wird es ja oft wahrgenommen, sondern etwas, was vielleicht tatsächliche eine heutige Kunst sein kann", erklärt Orchester-Leiter Thomas Posth.
    Das Konzept, die Musik aus den Konzertsälen in die Wirklichkeit zu holen, geht auf. Vor allem, weil sich die Musiker bei ihren Einsätzen nicht all zu ernst nehmen. Und es mit Humor deutlich leichter ist, die Welt zu retten. Inzwischen bekommt das Orchester so viele Anfragen für weitere Konzerte, dass der Leiter schon von einer festen Institution träumt. Mit einem virtuellen Briefkasten für Brandbriefe und bis zu zehn spontanen Einsätzen im Jahr.