Freitag, 19. April 2024

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Orchestermusik von Edison Denisov
Historische Tondokumente

Vor vierzig Jahren wurde seine Musik international gefeiert, in Russland aber war Edison Denisov lange mit Aufführungsverbot belegt. Zu seinem 90sten Geburtstag hat das Label Melodiya ein historisches Tondokument veröffentlicht: die Aufzeichnung des ersten Konzerts mit Denisovs Orchestermusik.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 05.04.2020
    Ein weißhaariger Mann im Rollkragen Pullover sitzt vor einem Plattenregal
    Heute neu zu entdecken: der russische Komponist Edison Denisov (Victor Bajenov)
    Musik: Edison Denisov - "Peinture for Orchestra" (Ausschnitt)
    1929 im sibirischen Tomsk geboren, gehört Edison Denisov neben Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke zu den profiliertesten und im Westen bekanntesten Komponisten der russischen Avantgarde der 1970er, 1980er Jahre. Jedoch fällt wegen seiner künstlerischen Kompromisslosigkeit in seiner Heimat zunächst wenig Licht auf das kompositorische Schaffen, auch wenn dieses in der westlichen Welt durchaus auf offene Ohren stößt.
    Aus dem Rundfunkarchiv
    Zum 90. Geburtstag des Komponisten im vergangenen Jahr veröffentlichte das russische Label Melodya ein bemerkenswertes Dokument mit Konzertaufnahmen, die 1990 in der großen Halle des Moskauer Konservatoriums entstanden sind. Gennady Rozhedestvensky dirigiert hier das Sinfonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR mit Orchesterkompositionen Denisovs. - Wer ist der Komponist?
    Als Autodidakt erlernt Edison Denisov ab dem 15. Lebensjahr das Spiel von Mandoline, Gitarre und Klarinette. Bevor er sich dem Komponieren widmet, studiert er in seiner Geburtsstadt Mathematik. Erst auf Empfehlung von Dimitri Schostakowitsch, der seinerzeit unter Berufsverbot stand, beginnt er 1949 am Moskauer Konservatorium ein Kompositionsstudium bei Vessarion Schebalin und Nikolai Pejko. Es ist eine kulturpolitisch äußerst bedrückende Zeit.
    Ab 1959 darf Denisov am Konservatorium Instrumentation unterrichten, erst ab 1990 auch Komposition. Zwei Jahre später wird er zum Präsidenten der neu gegründeten "Vereinigung für zeitgenössische Musik" in Moskau ernannt. In diesem Kontext bekommt er auch eine Einladung von Pierre Boulez, im elektronischen Studio des IRCAM in Paris zu arbeiten. Nach einem schweren Autounfall 1994 lässt Denisov sich dauerhaft in Paris nieder, wo er 1996 an den Unfallfolgen verstirbt.
    Musik: Edison Denisov - "Peinture for Orchestra" (Ausschnitt)
    Das Eigene reflektieren
    Die ersten Kompositionen in meist ungewöhnlichen kammermusikalischen Besetzungen aus den späten 1950er Jahren verweisen noch auf deutliche Einflüsse der Kompositionssprache von Bartók und Strawinsky mit ihren stark folkloristischen Anklängen, die Denisov jedoch mit eigenen klangfarblichen Elementen verdichtet. Die Auseinandersetzung mit kompositorischen Vorbildern stürzt ihn in eine schöpferische Krise, denn er wollte sich nach eigenen Aussagen selbst finden und notiert entsprechend: "1965 entstanden im ganzen Jahr nur sechs Minuten Musik! Sechs Minuten- das ist wenig! Dies hing damit zusammen, dass ich zu dieser Zeit sehr viel Analysen erarbeitet und zahlreiche Artikel geschrieben habe. Doch bin ich auf diese Weise auch als Komponist selbständiger geworden."
    Ein Spiel der Farben
    Einen eigenen kontrapunktischen Stil, der sich durch ein Spiel mit Klangfarben auszeichnet, entwickelt Denisov zu Beginn der 1970er Jahre. Das melodische Moment gewinnt für ihn zunehmend an Bedeutung und statt kammermusikalischen Arbeiten konzentriert er sich jetzt auf großformatige Konzeptionen und Besetzungen. Als gelungenste Arbeit bezeichnet er in diesem Kontext das 1970 entstandene Orchesterstück "Peinture". In dieser Komposition scheint sich für Denisov alles zu realisieren, wonach er in seiner langen Schaffenspause gesucht hat.
    Zu diesem Orchesterstück inspiriert fühlt sich Denisov durch den ein paar Jahre älteren russischen Maler Boris Birger, dessen Farbaufbau und Farbmischungen von außen nach innen hin zu einem Mittelpunkt faszinieren. Ihm ist das Werk auch gewidmet. Auch wenn Denisov auf explizite Bezüge zu bestimmten Bildern bewusst verzichtet, so will er doch mit seiner Musik Analogien zu Birgers Umgang mit Farbmischungen schaffen.
    In "Peinture" entsteht über ein polyphones Netz mit bis zu 62 Stimmen ein variantenreiches Farbspiel. Jeglichen Eindruck einer musikalischen Zäsur vermeidet Denisov mit sich nur minimal verändernden irisierenden Klangfarben und komplexen rhythmischen Strukturen, wodurch er kaum hörbare Übergänge realisiert. Orchesterklänge mischen sich in verschiedenen Farbgebungen, die je nach Dichte eine bestimmte Struktur schaffen. Zu den Farbträgern werden hier Harfe, Celesta, Vibraphon und Klavier, während im Hintergrund die Blechbläser in dunklen Harmonien intonieren. Erst gegen Ende des Stückes greift ein vielstimmiger Kontrapunkt der einzeln spielenden Streicher.
    Das Werk birgt eine dramatische Struktur über eine Melodie, die oft kaum hörbar bleibt, aber sich immer wieder neu in unterschiedlichen Instrumentenkonstellationen formiert. Auffällig ist die häufige Wahl der Tonart D-Dur zur klanglichen Realisierung von Licht und Helligkeit.
    Musik: Edison Denisov - "Peinture for Orchestra"
    "Mir bedeutet die Farbe sehr viel und ich habe überhaupt das Gefühl, dass ich als Komponist bei den Malern sehr viel mehr gelernt habe als bei vielen Komponisten. Die Klangfarbe hat in meinen Werken keine dekorative Funktion – ich mag in der Kunst nichts Dekoratives oder Illustratives - sondern sie erfüllt inhaltliche und ausdrucksmäßige Aufgaben", so Denisov.
    Die Besonderheit dieser CD: Es gibt auch einen Probenausschnitt und Gespräche zwischen dem Dirigenten Rozhdestvensky und dem Komponisten Denisov, in russischer Sprache, und so gewinnt man primär einen atmosphärischen Eindruck rund um diese Aufnahme. - In englischer Sprache sind diese, teilweise ausführlichen Gespräche im beigefügten Booklet nachzulesen. Sie geben interessante Einblicke in Denisovs Kompositionsverständnis, der auf Fragen von Rozhdestvensky antwortet.
    Ringen um das Solokonzert
    Dem Schweizer Flötisten Aurèle Nicolet widmet Edison Denisov ein Konzert, das der Flötist 1975 in Auftrag gegeben hat. Denisov reizt diese Form, um auf die individuellen Herausforderungen eines Instrumentes einzugehen und nach nicht erschöpftem spieltechnischen Potential suchen. Lange Zeit findet Denisov keinen Zugang zum Solokonzert. Das viersätzige Flöten-Konzert interagiert zwischen Solo und Orchester, wobei die kompositorische Entwicklung im Kontext von 12-Ton-Reihen spielt. Gleichzeitig nutzt Denisov serielle Techniken und Mikrotonalität zur Verstärkung von Expressivität.
    Das Solokonzert deutet Denisov als ein Genre, dass ihn selbst überrascht habe, denn er habe das Format nie gemocht, auch nicht aus der Feder des sonst so verehrten Mozart. Im dritten Satz "Andante" soll eine choralartige Melodie an Dmitri Schostakowitsch erinnern, von dessen Tod Denisov während der Arbeit an dem Konzert erfahren hat - eine Art Widmung an einen maßgeblichen Wegbereiter für den Komponisten Denisov.
    Musik: Edison Denisov - "Andante" aus "Konzert für Flöte und Orchester"
    Dass Edison Denisov auch für Dimitri Schostakowitsch eine wichtige Rolle als Kollege und persönlicher Freund spielt, belegt ein Blick in diverse Biographien. Vor allem in Schostakowitschs autobiographischen Notizen stößt man immer wieder auf Edison Denisov, dem er u.a. vielerlei persönliche und künstlerische Konflikte anvertraut.
    Trotz aller Einschränkungen, die Denisov in seiner Heimat wiederfährt, fällt sein Blick nicht nur auf Europa und er betont: "Ich war kein äußerer und kein innerer Emigrant, ich bin niemals Dissident gewesen, habe mich niemals von dem losgerissen, was in unserem Land geschieht."
    Zwischen Licht und Dunkel
    Eine monumentale Sinfonie für großes Orchester entsteht 1987 zum 20. Geburtstag des Orchestre de Paris; Denisov widmet sie dem damaligen Chefdirigenten Daniel Barenboim. Gestaltet ist das Werk vor dem geistigen Hintergrund der Kontraste zwischen Gut und Böse bzw. Licht und Dunkel. Die kontrastierenden Prinzipien werden durch ein System von Klangfarben und mit abwechslungsreicher Instrumentation symbolisiert. Dunklen Tönen von Blech, tiefen Holzbläsern und Schlagwerk treten lichte, transparente Streicherklänge gegenüber. Vielfarbigkeit und Ausdrucksintensität werden hier zu den tragenden Säulen der viersätzigen Sinfonie, deren erster Satz das programmatische Gegenüber eindrücklich über knapp 21 Minuten zelebriert. Neben vollen Orchesterklängen werden auch Vibraphon und Xylophon blockhaft eingebettet.
    Musik: Edison Denisov - "Agitato" aus: "Symphony"
    Die Transparenz seiner Musik entspringt stets seinem ungebrochenem Streben nach Licht, das sich in seiner Gedankenwelt mit humanem Trost und Hoffnung inmitten des Dunkels verbindet. Neben der Bildenden Kunst, findet Denisov dahingehende inhaltliche Anregungen u.a. in der Literatur bei Charles Baudelaire, George Bataille oder Boris Vian. Im Mittelpunkt stand für Edison Denisov aber immer eine ethische Dimension von Musik.
    Musik: Edison Denisov: "Adagio" aus "Symphony"
    Edison Denisov: Anniversary Edition
    Dimitri Denisov, Flöte
    Sinfonieorchester des Kulturministeiums der UdSSR
    Ltg. Gennady Rozhdestvensky
    2CD, Melodya