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"Ordnung, eine unendliche Geschichte"

Wer Ordnung hält, ist zu faul zum Suchen. So ein Alltagsspruch wird von Schriftstellern und Intellektuellen gern bestätigt. Kreatives Chaos, Zettelwirtschaft, schöpferische Unordnung gehören dazu: Ob Niklas Luhmanns Zettelkästen oder die Bücher und Zeitungsstapel von Friederike Mayröcker. Den Ordnungen der Literatur und ihren Produzenten widmet sich die Sommerausstellung im Marbacher Literaturmuseum der Moderne.

Von Christian Gampert |
    "Man müsste mal wieder aufräumen", seufzt mancher, der schreibend sein Geld verdient und sich voller Grauen umwendet zu Manuskriptstapeln, verworfenen Texten, gelesenen und ungelesenen Büchern und vor allem so genanntem Material, das ist all das, was man irgendwann einmal wird brauchen können, alte Zeitungen, Fotos, Notizen, Briefe, Exzerpte. Natürlich bleibt alles liegen, denn schon das Aufräumen der Festplatte nimmt heute genügend Zeit in Anspruch.

    Es gibt allerdings einen Trick, das Chaos zu bewältigen und loszuwerden: man gibt seinen Nachlass (oder am besten schon Vorlass) an das Marbacher Literaturarchiv - die ordnen das dann, erforschen es und legen es manchmal auch unter Vitrinen. Voraussetzung ist, dass man wenigstens einen gewissen Ausschnitt seines geistigen Daseins in eine literarische Form gebracht hat, und das erfordert nun leider einige Disziplin. Mag auch das Zimmer von Ernst Jandl ausgesehen haben wie die Garage eines papiersammelnden Obdachlosen, die Gedichte waren streng komponiert.

    Marbach zeigt uns, wie Schriftsteller sich selbst organisieren. Zwar muss auch da manchmal eine äußere Ordnung her, das Bündeln von Papier in Mappen oder das Sammeln von Briefen in Kästchen ("Briefe des Königs" schrieb Alexander von Humboldt bescheiden darauf), aber im Grunde geht es um die innere Ordnung, die im Kopf und dann auch auf dem Papier. Über mehrere Stationen tastet sich die Ausstellung dahin vor: sie beginnt mit Schiller, einem Schriftsteller, der die Spuren des mühsamen Entstehungsprozesses gern verwischte - Fragmente seines aufgegebenen "Malteser"-Dramas wurden für seine Bewunderer zu Reliquien und sind nun im Literaturmuseum erstmals wieder zusammengesetzt worden. Andere Kulturschaffende legen sämtliche Vorarbeiten und Entwicklungsstadien eines Projekts für die Nachwelt ab. Wieder andere, zum Beispiel Peter O. Chotjewitz, schreiben auf eine dicke Mappe den erfrischenden Titel "Jugendscheiße und nicht realisierte Projekte".

    Aber nicht um eine Charakteristik einzelner Künstler geht es in dieser Ausstellung, sondern um den Beleg, dass gerade in der Literatur, dem Reich der Phantasie und der Freiheit, strenge Ordnungsprinzipien walten - eine innere Strukturiertheit, ohne die nichts geht. Das beginnt mit dem systematischen Sammeln - Paul Celan sammelte Wörter, zum Beispiel das Wort "Herbstzeitlose" in verschiedenen Sprachen; Tucholsky sammelte "schöne Stellen", Eduard Mörike Steine, Hermann Hesse die Namen indischer Gottheiten für den Roman "Siddartha". Es geht weiter mit der Planung des Werks, Handlungsverläufen, Kapitelüberschriften, korrespondierenden Erzählsträngen. Barocke, übergroße graphische Kunstwerke in sich sind etwa die Roman-Baupläne des Hubert Fichte, vor allem der für den "Versuch über die Pubertät". Wie sich ein Gedicht entwickelt, aus einem Nukleus sich eine poetische Struktur ergibt und der Autor sich vortastet von einer Zeile, von einer Fassung zur nächsten, das wird vorgeführt von Durs Grünbein und Nico Bleutge. Ernst Jünger schrieb Tagebuch als Teil des Werks; bei dem manischen Selbsterkunder Martin Walser gehen die ungeschützt ins Tagebuch geschriebenen Passagen oft wörtlich in literarische Projekte ein.

    Schließlich zeigt die Ausstellung, wie intensiv Schriftsteller Bücher nutzen, wie sie anstreichen, auswählen, etwas für sich in Beschlag nehmen und verwerten. Hans Blumenbergs Sammlung von Georg-Simmel-Zitaten, Kracauers Zettelkästen zum Film, W.G. Sebalds Anstreichungen des Wortes "naturgemäß" bei Thomas Bernhard - das sind Anregungen und Vorformen eigener Werke. Manchmal hinterlassen auch andere Menschen ihre Spuren: die verlassene erste Ehefrau des Hermann Hesse kokelte dessen Gedichte an, und das "Stammbuch" des Achim von Arnim, eigentlich ein Gästebuch, in dem sich alle Besucher von Tieck bis Goethe immer wieder eintrugen, wuchs sich in drei Jahrzehnten zu einem fast 10 Zentimeter hohen Block aus.

    Auch eine Ordnung, zumindest eine Übersicht. Dass man ohne die nicht auskommt, und in welch quälenden Prozessen sie oft nur zu erlangen ist, belegen die vielen umgearbeiteten und vielfach redigierten Manuskriptblätter dieser Ausstellung. Wer immer in Unordnung lebt, er sei an René bzw. Rainer Maria Rilke verwiesen: er änderte für Lou Andreas-Salomé nicht nur seine Handschrift, sondern auch seinen Namen. Getreu dem Motto: du musst dein Leben ändern.