"The Orient-Express will depart from platform one at nine p.m. for Sofia, Belgrade, Zagreb, Rom, Trieste, Venice, Lousanne, Basel, Paris, Calais with Connection to London."
Drei Tage und drei Nächte dauerte um 1890 die Reise mit dem berühmten Luxus- und Hotelzug, dem Orient-Express, von Istanbul nach Paris und wieder zurück: eine Verbindung zwischen Ost und West, die sich mit vielen Geschichten in ein kulturelles Gedächtnis eingeschrieben hat:
"Agatha Christie mit 'Orientexpress'. Und John Dos Passos hat ja auch einen Roman über den Orient-Express geschrieben - nicht zu vergessen auch James Bond: 'From Russia with love' spielt ja eigentlich nur in diesem Zug."
Der Orient-Express ist ein Bild für den Austausch zwischen Orient und Okzident: einem Austausch, durch den über Jahrhunderte Bilder und Vorstellungen transportiert werden, unter anderen die von der Rückständigkeit des "Orient", sagt der Historiker Nenad Stefanov von der Freien Universität Berlin. Orient erschien als Gegenstück zur europäischen Moderne:
"Das Stagnierende, Partikulare gegenüber dem universellen allumfassenden Fortschritt, den man sich doch wünscht. Und all das ist zum Teil vorhanden in all den von dem Geist der Aufklärung und Objektivität und Rationalität beseelten Wissenschaftlern, die sich eben aus dem Habsburger Reich oder aus dem übrigen Westeuropa aufgemacht haben dann, um den Orient zu erkunden."
Betrachtet man den Erfahrungsaustausch über Diplomaten und Eliten differenzierter - wie auf der wissenschaftlichen Tagung des Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte geschehen - dann schwappt die Vorstellung von der Rückständigkeit des Orients nicht einfach von West nach Ost.
Sie wird Ende des 19. Jahrhunderts vielmehr von dortigen Akteuren, von Lehrern und vor allem Beamten, als Motiv aufgegriffen und zur Durchsetzung von Modernisierungen genutzt. Markus Koller, Professor am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen:
"Ich kann es primär am Beispiel des Osmanischen Reiches beschreiben, wo eben die Motive für diese Modernisierungspolitik davon ausgehen, dass es ein weit verbreitetes Gefühl vor allem bei den Eliten der osmanischen Verwaltung gab, dass man im Vergleich zu westeuropäischen Mächten doch technisch und wirtschaftlich in eine Art von Rückständigkeit geraten ist - und deswegen eben sozusagen die Strukturen des Reiches, den Verwaltungs-, den Militär-, den Bildungsapparat modernisieren, erneuern muss, um im Konkurrenzkampf der neuen Großmächte seinen Platz finden - und im Fall des Osmanischen Reiches überhaupt überleben - zu können. Das waren Muster, die sozusagen auch gerne übernommen worden sind: von Eindeutigkeit, Homogenität, also das alles, was sozusagen die westlichen Staaten über einen Prozess von mehreren Jahrhunderten erlangt haben, gesellschaftlicher Homogenität, ethno-nationale, konfessionelle Homogenität - das wollten man dort auch herstellen, nur in einem Kontext, der viel, viel vielschichtiger, komplexer und eben nicht so einfach zu fassen war."
Rückständigkeit und Unterlegenheit ist orientalisch. Also muss das Orientalische weg, so die simple Schlussfolgerung, durch die eine Imagination zu einem konkreten Teil der Realität wurde. Hannes Grandits, Professor für Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz:
"Überschattet oder schwierig gemacht wurde dieser Anlauf zu mehr Gleichheit durch Konflikte. Konflikte auch, die im Grunde genommen Widerstand waren dagegen, gegen Neuerungen, gegen den Verlust erworbener, traditioneller Vorrechte und Ähnliches. Infolge dieser Konflikte kommt es zu Zerrüttung von Verhältnissen, lokal, nach einem Krieg oder ähnliches, und in dieser zerrütteten Situation kommt es zu einer Aufwertung von Konfession."
Mit der Entstehung der Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vertreibung der muslimischen Bevölkerung bekommt Religion in einem Wechselspiel von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung neue Bedeutung. "Christ sein" oder "Muslime sein" wird vor dem Hintergrund der konkreten politischen und sozialen Situation für die Menschen existenziell.
Dieser historische Befund ist für die Wissenschaftler beispielgebend für die Gegenwart. Um zu klären, warum Islam in der Wahrnehmung unserer Zeit so wichtig ist, konzentrieren sich inzwischen verschiedene Forschungsprojekte auf soziale und politische Hintergründe von Gesellschaften, in denen Islam neuerdings ein erstarkendes Phänomen ist. Christian Noack von der National University of Ireland, Maynooth, schaut in einem Projekt mit dem Titel "Allahs Kolchosen" zum Beispiel auf Dörfer im Raum der ehemaligen Sowjetunion:
"Wir möchten eben einfach sehr gerne herausbekommen: In welchem Wechselverhältnis steht die Erscheinung neuer Formen des Islams, neuer Institutionen, neuer Interpretationen des Islams mit den doch tiefgreifenden Veränderungen in den Wirtschaftsweisen, in den gesellschaftlichen Verhältnissen auf den Dörfern. Man kann den Islam natürlich dazu benutzen, um Veränderungen zu legitimeren. Wir sagen: Potenziell kann es ein Argument für oder gegen eine bestimmte Veränderung sein, für oder gegen bestimmte Arten und Weisen zu wirtschaften, Ressourcen in so einer kleinen Gemeinschaft umzuverteilen, Macht auszudrücken oder eben auch Mächtige zu ersetzen. Das muss man, glaube ich, ganz offen sehen und wir wollen wirklich von Fall zu Fall wirklich jetzt einfach mal genau nachschauen, so gut wir das können, was da passiert ist."
Genau nachgesehen hat auch der Bülent Kücük, Postdoc an der Sabanci Universität in Istanbul. Der Soziologe wertete für seine Dissertation an der Humboldt Universität zu Berlin 2700 politische Kolumnen aus drei einschlägigen türkischen und drei deutschen Tageszeitungen aus, um Imaginationen von Orient und Okzident im Zusammenhang mit dem Beitritt der Türkei zur EU herauszufiltern. Westeuropa taucht aus Sicht der Türkei dabei wie schon im 19. Jahrhundert als Label für Technik, Fortschritt und Entwicklung auf. Aber auch alte Vorbehalte gegenüber Modernisierungsprozessen halten sich hartnäckig:
"Auf der einen Seite ist man begeistert von der Idee, dass man saubere Straßen hat und europäische Gebäude hat und Ausbildungssysteme und vor allem in diesen militärischen und politischen Bereichen, Justizwesen. Auf der anderen Seite ist immer eine Resistenz entstanden gegenüber diesem Verwestlichungsprozess."
Nur haben inzwischen Befürworter und Skeptiker in der Türkei die Argumente getauscht. Während konservative Seiten den EU-Beitritt befürworten, werden die Kemalisten, die einst die Modernisierung vorantrieben, zu Europaskeptikern. Islam spielt bei diesem Wechselspiel der politischen Kräfte nur eine Rolle unter vielen und wird mitunter als konstruiertes Image genutzt, sagt Bülent Kücük:
"Islamische Argumente oder Argumente, in denen man auf die islamischen Praktiken irgendwie hinweist, können auf diesem symbolischen Feld als ein Repertoire auftauchen, aber das ist eine symbolische Politik. Die hat mit der islamischen Theologie nichts zu tun. Eher geht es um die Kleidungen, um eine Art von Konservatismus und kulturell Praktiken, die teilweise als Islam, teilweise als türkisch gedeutet werden."
Indem Fantasien von Europa, Orient oder von Islam in politische und soziale Auseinandersetzungen eingehen, werden sie real und beeinflussen gesellschaftliche Entwicklungen. Während sie also weiter von Ost nach West reisen und wieder zurück, sollte man genau nachsehen, in welchem Abteil...
Drei Tage und drei Nächte dauerte um 1890 die Reise mit dem berühmten Luxus- und Hotelzug, dem Orient-Express, von Istanbul nach Paris und wieder zurück: eine Verbindung zwischen Ost und West, die sich mit vielen Geschichten in ein kulturelles Gedächtnis eingeschrieben hat:
"Agatha Christie mit 'Orientexpress'. Und John Dos Passos hat ja auch einen Roman über den Orient-Express geschrieben - nicht zu vergessen auch James Bond: 'From Russia with love' spielt ja eigentlich nur in diesem Zug."
Der Orient-Express ist ein Bild für den Austausch zwischen Orient und Okzident: einem Austausch, durch den über Jahrhunderte Bilder und Vorstellungen transportiert werden, unter anderen die von der Rückständigkeit des "Orient", sagt der Historiker Nenad Stefanov von der Freien Universität Berlin. Orient erschien als Gegenstück zur europäischen Moderne:
"Das Stagnierende, Partikulare gegenüber dem universellen allumfassenden Fortschritt, den man sich doch wünscht. Und all das ist zum Teil vorhanden in all den von dem Geist der Aufklärung und Objektivität und Rationalität beseelten Wissenschaftlern, die sich eben aus dem Habsburger Reich oder aus dem übrigen Westeuropa aufgemacht haben dann, um den Orient zu erkunden."
Betrachtet man den Erfahrungsaustausch über Diplomaten und Eliten differenzierter - wie auf der wissenschaftlichen Tagung des Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte geschehen - dann schwappt die Vorstellung von der Rückständigkeit des Orients nicht einfach von West nach Ost.
Sie wird Ende des 19. Jahrhunderts vielmehr von dortigen Akteuren, von Lehrern und vor allem Beamten, als Motiv aufgegriffen und zur Durchsetzung von Modernisierungen genutzt. Markus Koller, Professor am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen:
"Ich kann es primär am Beispiel des Osmanischen Reiches beschreiben, wo eben die Motive für diese Modernisierungspolitik davon ausgehen, dass es ein weit verbreitetes Gefühl vor allem bei den Eliten der osmanischen Verwaltung gab, dass man im Vergleich zu westeuropäischen Mächten doch technisch und wirtschaftlich in eine Art von Rückständigkeit geraten ist - und deswegen eben sozusagen die Strukturen des Reiches, den Verwaltungs-, den Militär-, den Bildungsapparat modernisieren, erneuern muss, um im Konkurrenzkampf der neuen Großmächte seinen Platz finden - und im Fall des Osmanischen Reiches überhaupt überleben - zu können. Das waren Muster, die sozusagen auch gerne übernommen worden sind: von Eindeutigkeit, Homogenität, also das alles, was sozusagen die westlichen Staaten über einen Prozess von mehreren Jahrhunderten erlangt haben, gesellschaftlicher Homogenität, ethno-nationale, konfessionelle Homogenität - das wollten man dort auch herstellen, nur in einem Kontext, der viel, viel vielschichtiger, komplexer und eben nicht so einfach zu fassen war."
Rückständigkeit und Unterlegenheit ist orientalisch. Also muss das Orientalische weg, so die simple Schlussfolgerung, durch die eine Imagination zu einem konkreten Teil der Realität wurde. Hannes Grandits, Professor für Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz:
"Überschattet oder schwierig gemacht wurde dieser Anlauf zu mehr Gleichheit durch Konflikte. Konflikte auch, die im Grunde genommen Widerstand waren dagegen, gegen Neuerungen, gegen den Verlust erworbener, traditioneller Vorrechte und Ähnliches. Infolge dieser Konflikte kommt es zu Zerrüttung von Verhältnissen, lokal, nach einem Krieg oder ähnliches, und in dieser zerrütteten Situation kommt es zu einer Aufwertung von Konfession."
Mit der Entstehung der Nationalstaaten auf dem Balkan und der Vertreibung der muslimischen Bevölkerung bekommt Religion in einem Wechselspiel von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung neue Bedeutung. "Christ sein" oder "Muslime sein" wird vor dem Hintergrund der konkreten politischen und sozialen Situation für die Menschen existenziell.
Dieser historische Befund ist für die Wissenschaftler beispielgebend für die Gegenwart. Um zu klären, warum Islam in der Wahrnehmung unserer Zeit so wichtig ist, konzentrieren sich inzwischen verschiedene Forschungsprojekte auf soziale und politische Hintergründe von Gesellschaften, in denen Islam neuerdings ein erstarkendes Phänomen ist. Christian Noack von der National University of Ireland, Maynooth, schaut in einem Projekt mit dem Titel "Allahs Kolchosen" zum Beispiel auf Dörfer im Raum der ehemaligen Sowjetunion:
"Wir möchten eben einfach sehr gerne herausbekommen: In welchem Wechselverhältnis steht die Erscheinung neuer Formen des Islams, neuer Institutionen, neuer Interpretationen des Islams mit den doch tiefgreifenden Veränderungen in den Wirtschaftsweisen, in den gesellschaftlichen Verhältnissen auf den Dörfern. Man kann den Islam natürlich dazu benutzen, um Veränderungen zu legitimeren. Wir sagen: Potenziell kann es ein Argument für oder gegen eine bestimmte Veränderung sein, für oder gegen bestimmte Arten und Weisen zu wirtschaften, Ressourcen in so einer kleinen Gemeinschaft umzuverteilen, Macht auszudrücken oder eben auch Mächtige zu ersetzen. Das muss man, glaube ich, ganz offen sehen und wir wollen wirklich von Fall zu Fall wirklich jetzt einfach mal genau nachschauen, so gut wir das können, was da passiert ist."
Genau nachgesehen hat auch der Bülent Kücük, Postdoc an der Sabanci Universität in Istanbul. Der Soziologe wertete für seine Dissertation an der Humboldt Universität zu Berlin 2700 politische Kolumnen aus drei einschlägigen türkischen und drei deutschen Tageszeitungen aus, um Imaginationen von Orient und Okzident im Zusammenhang mit dem Beitritt der Türkei zur EU herauszufiltern. Westeuropa taucht aus Sicht der Türkei dabei wie schon im 19. Jahrhundert als Label für Technik, Fortschritt und Entwicklung auf. Aber auch alte Vorbehalte gegenüber Modernisierungsprozessen halten sich hartnäckig:
"Auf der einen Seite ist man begeistert von der Idee, dass man saubere Straßen hat und europäische Gebäude hat und Ausbildungssysteme und vor allem in diesen militärischen und politischen Bereichen, Justizwesen. Auf der anderen Seite ist immer eine Resistenz entstanden gegenüber diesem Verwestlichungsprozess."
Nur haben inzwischen Befürworter und Skeptiker in der Türkei die Argumente getauscht. Während konservative Seiten den EU-Beitritt befürworten, werden die Kemalisten, die einst die Modernisierung vorantrieben, zu Europaskeptikern. Islam spielt bei diesem Wechselspiel der politischen Kräfte nur eine Rolle unter vielen und wird mitunter als konstruiertes Image genutzt, sagt Bülent Kücük:
"Islamische Argumente oder Argumente, in denen man auf die islamischen Praktiken irgendwie hinweist, können auf diesem symbolischen Feld als ein Repertoire auftauchen, aber das ist eine symbolische Politik. Die hat mit der islamischen Theologie nichts zu tun. Eher geht es um die Kleidungen, um eine Art von Konservatismus und kulturell Praktiken, die teilweise als Islam, teilweise als türkisch gedeutet werden."
Indem Fantasien von Europa, Orient oder von Islam in politische und soziale Auseinandersetzungen eingehen, werden sie real und beeinflussen gesellschaftliche Entwicklungen. Während sie also weiter von Ost nach West reisen und wieder zurück, sollte man genau nachsehen, in welchem Abteil...