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Orient statt Disneyland

Aleppo, in Nordsyrien, auf halbem Wege zwischen dem Euphrat und dem Mittelmeer gelegen, ist eine der ältesten kontinuierlich bewohnten Städte der Welt. 1986 wurde die Altstadt von Aleppo ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Ihr Bazar, der Souq, gehört zu den traditionellsten der arabischen Welt und ist unbedingt eine Reise wert.

Von Antje Bauer |
    "Das hier ist Ingwer, den tut man in den Tee, in Gemüsesuppen, und in kleinen Mengen in den Kaffee. Dann habe ich hier getrocknete Zitronen, die tun wir in Kräutertee oder in schwarzen Tee. Dieses Kraut hier ist gut für die Nieren, das ist arabische Medizin. Dies ist schatta, sehr scharfer Pfeffer, der kommt aus China. Dies hier sind Lorbeerblätter, die nehmen dem Kochwasser von Suppenhühnern den Geruch. Dann gibt es dieses, das ist Anis, das ist gut für den Magen."

    An den Wänden von Zuheir Abu-Shaars Gewürzlädchen in der Altstadt von Aleppo ist kein Kubikzentimeter Platz frei: In den Schränken stecken Dutzende Schubladen voller Kräuter, Pulver, Körner, Samen; auf den Regalen stehen Fläschchen, Tiegel, Päckchen und gefüllte Säcke. Der Duft nach Kräutern und Gewürzen erfüllt die ganze Gasse. Zuheir Abu-Shaar zieht Schubladen auf, öffnet Tüten. Den Laden hat Abu Shaar von seinem Vater übernommen ebenso wie das Wissen über die Heilkraft der Kräuter. Ein Großteil seiner Kunden sind Bauern. Die kurieren sich lieber mit Kräutern als mit Medikamenten.

    Am Morgen schreiten die Ersten durchs alte Antiochia-Tor: Hagere Bauern und Beduinen, ein Tuch oder einen Turban auf dem Kopf, Frauen in langen schwarzen Kleidern und Schleiern, die nur das Gesicht freilassen. Sie tragen Körbe auf dem Kopf und ziehen Kinder an der Hand hinter sich her. Früh schon sind sie aus den umliegenden Dörfern aufgebrochen, um hier im Bazar von Aleppo einzukaufen.

    Im kühlen Halbdunkel der überdachten Gassen reiht sich Laden an Laden. Souq heißt so ein traditionelles Geschäftszentrum auf Arabisch: Markt, wobei es auf diesem Markt nicht nur Obst und Gemüse zu kaufen gibt, sondern auch Kosmetika, Kleidung, Kochgeschirr und Perserteppiche.

    In der Hauptgasse des Souqs haben die Händler die Blechrolläden ihrer Geschäfte hochgezogen und sitzen nun auf Höckerchen davor, unterhalten sich mit ihren Nachbarn und beobachten die Passanten. Obwohl sich der Souq zunehmend mit Menschen füllt, herrschen die Ruhe und Gemächlichkeit des Orients. Vor einer Nussrösterei liegt eine Plastikplane mitten in der Gasse, darauf dampfen frisch geröstete Erdnüsse. Sie verströmen einen appetitlichen Duft. An einem Lädchen steht die Kundschaft bis auf die Gasse: Hier wird aus großen Kupferkesseln Foul geschöpft, gegarte dicke Bohnen; das ist das traditionelle Frühstücksgericht. Ein paar Meter weiter hat ein Schlachter ein ganzes totes Schaf in die Gasse gehängt, die Kunden suchen sich ihr Stück Fleisch selbst aus.

    In einer dunklen Nische gegenüber von Abu Shaars Gewürzlädchen sitzt Ahmad Nasrallah auf einem Hocker. Er schneidet Bambusstöcke zu und befestigt Lederknäufe daran. Ganze Bündel von Bambusstöcken lehnen an der Wand. Ahmad Nasrallahs Kunden kommen fast alle vom Dorf.

    "Dies ist ein Hirtenstab aus chinesischem Bambus. Er wird aber auch beim Tanzen benutzt. Vor allem Bauern kaufen ihn. Der Stock an sich kommt aus China, ich selber setze nur den Griff dran."

    Ein Hirtenstab aus China für einen syrischen Bauern. Diese Globalisierung steht in einer langen Tradition. Schon immer war Aleppo ein Warenumschlagplatz. Die Stadt lag an der Kreuzung wichtiger Handelswege: An der Seidenstraße von China nach Europa, an der Weihrauchstraße von der arabischen Halbinsel ans Mittelmeer. Im osmanischen Reich war Aleppo eine der wichtigsten Handelsstädte des Nahen Ostens, neben Istanbul und Kairo. Die Altstadt ist ein über Jahrhunderte gewachsenes Labyrinth, in dem auf engstem Raum gelebt, gearbeitet und gehandelt wird. Der Souq, das Zentrum der Altstadt, gilt als einer der größten der arabischen Welt – seine schmalen Gässchen erstrecken sich auf etwa zehn Kilometern Länge.

    Früher war der Souq nach Gewerken aufgeteilt: Es gab den Souq der Gewürzhändler, den der Tuchweber, den der Kupferschmiede usw. Heute gilt diese Aufteilung nicht mehr so strikt. Im Viertel der Seifensieder sind zum Beispiel keine Seifensieder mehr zu finden. Die meisten Seifenfabriken hier im Souq haben geschlossen. Einige sind eingegangen. Andere sind ins Industriegebiet am Rand der Stadt gezogen. Die Seifensiederei Zanabili gibt's noch. Sie liegt im Souq der Kupferschmiede, hinter einer unscheinbaren Toreinfahrt. Der Eigentümer, Abdelbadih Zanabili, sitzt in einem Kabuff hinter einem abgestoßenen Resopalschreibtisch, darauf ein schwarzes Telefon aus den 50er-Jahren. Die Stühle sind durchgesessen, der Teppichboden abgewetzt. Herr Zanabili trägt eine Wollmütze und einen dicken Mantel, denn es ist kalt, und das Stöfchen verbreitet kaum Wärme.

    Der Hof ist eine Art unordentliches Warenlager. Berge von knorrigem Brennholz liegen im Freien auf einem Haufen, daneben Fässer und nochmals Fässer. In einem dämmrigen Gewölbe stehen zwei Männer in Gummistiefeln und passen auf, dass die olivgrüne heiße Suppe, die vor ihnen in einem Becken wabert, auch ordentlich umgerührt wird. Ein Stockwerk tiefer beheizt ein Holzfeuer den grünen Brei.

    "Der Brei besteht aus Olivenöl, Wasser und Soda und Lorbeeröl. Das Rühren geht über zwei Tage, jeweils fünf bis sieben Stunden. Wenn man viel Lorbeer reintut, dauert es länger."

    Wenn der Seifenbrei genug gerührt und erhitzt wurde, verändert sich die Farbe. Dann wird er mit einem Motor in höher liegende Gewölbe gepumpt und dort auf dem Fußboden ausgestrichen, damit er erkalten kann. Etwas sehr Altertümliches hat das alles an sich: Die Holzhaufen draußen, das Feuer im Keller und die verdreckten Arbeiter, die in dieser wabernden grünen Pampe rühren. Als habe sich seit Jahrhunderten an der Herstellung der berühmten Alepposeife nichts geändert. Und tatsächlich:

    "Ich stelle seit 70 Jahren Seife her. Es gibt nur eine Herstellungsweise. Und dann gibt es unterschiedliche Sorten. Das hängt von dem Lorbeeranteil ab. Lorbeer ist teuer. Je mehr davon drin ist, desto teurer die Seife."

    Auf die Idee, seine Seife zu verändern, etwas Neues damit auszuprobieren, kommt Zanabili nicht. Und weil die meisten Seifensieder so denken wie Zanabili, verkaufen sie immer weniger. Dabei reichte der Ruhm der Alepposeife lange Zeit weit über Syrien hinaus. Sie war das orientalische Pendant der Marseiller Seife. Doch heute verlangen die meisten Kunden Seifen, die nach mehr duften als immer nur nach Lorbeer. Außerdem darf die Lorbeerseife in Europa nur noch als Haushaltsseife verkauft werden, da der Lorbeer Allergien auslösen kann.

    In Syrien selbst war es bis vor ein paar Jahren selbstverständlich, dass die Aleppiner Kernseife für alles benutzt wurde, was man waschen kann. Doch inzwischen machen ihr billige Seife aus Asien und Shampoo, Waschpulver und Geschirrspülmittel Konkurrenz. Rana Rishi ist eine junge Mutter Mitte 20. Sie lebt in einem schicken neuen Stadtviertel und besucht die Altstadt nie.

    "Dort gibt es nur so altmodische Sachen. Wir wollen aber neue Sachen. Im Souq gibt es zum Beispiel kein Waschpulver für Waschmaschinen. Es gibt nur Lorbeerseife und so altes Zeug. Deshalb müssen wir in den neuen Läden einkaufen."

    So ist es mit dem Souq heute: Schöne alte, traditionelle Dinge werden dort hergestellt und verkauft, aber die syrische Mittelschicht will sie nicht mehr. Die kauft lieber in den Neustadtvierteln ein, wo alles sauber glänzt und in Plastik abgepackt ist. Auch leben möchte die Mittel- und Oberschicht nicht mehr in der Altstadt, die noch bis vor 100 Jahren das Zentrum Aleppos darstellte. Wer immer es sich leisten konnte, ist in ein Neubauviertel gezogen, weg von den engen Gassen, den alten Häusern mit ihren dunklen Innenhöfen, und weg von der sozialen Kontrolle in der Altstadt.

    Der Kleinunternehmer Mustafa Kawayya ist hier geboren, aber er fährt nur noch in die Altstadt, um seine Mutter zu besuchen. Sie lebt noch immer im Haus seiner Kindheit.

    "Die alten Häuser haben einen offenen Innenhof, und deshalb sind sie im Winter ein bisschen kalt. Ich lebe in der Neustadt. Das ist gesünder, denn die Wohnung ist in sich geschlossen."

    Kawayyas dickes Auto passt kaum durch die schmalen Straßen der Altstadt. Wohn- und Geschäftsviertel sind in alten arabischen Städten traditionell getrennt. Von den belebten Geschäftsstraßen zweigen stille, dämmrige Gässchen in die Wohnviertel ab. Dort säumen fensterlose Mauern die Straße. Nur Schritte sind hier zu hören, Stimmen oder ballspielende Kinder. Während in den Gassen des Geschäftsviertels viele Fremde unterwegs sind, weiß man in den Wohnvierteln der Altstadt, wer wohin geht; hier kennt man sich.

    Mustafa Kawayyas Mutter lebt in einem engen, verschatteten Haus, das Feuchtigkeit atmet. Im ungeheizten Schlafzimmer blüht dunkelrosa Schimmel an der Wand, der Putz wölbt sich. Die Zimmer gruppieren sich um einen kleinen Innenhof. Im Sommer schützen die dicken Mauern vor der Hitze, aber im Winter wird nur das Wohnzimmer beheizt, mit einem Petroleumöfchen. Jedes Mal, wenn die alte Frau das Wohnzimmer verlässt, muss sie den kalten, unüberdachten Innenhof durchqueren. Fünf Grad über Null herrschen hier im Winter, eine feuchte, unangenehme Kühle. Seit einigen Jahren schneit es sogar gelegentlich. Dennoch lebt Mustafa Kawayyas Mutter gerne in dem alten Haus. Da sie Hemmungen hat, vor dem Mikrofon zu reden – der Koran verbietet das, aus ihrer Sicht – übernimmt ihr Sohn Mustafa einen Großteil der Antworten.

    "Alte Frauen ziehen das Leben in den alten Häusern vor. Es gibt die Erinnerungen an das Leben in der Großfamilie, mit Großeltern und Enkeln."

    Die unüberdachten Innenhöfe sind das Herz arabischer Wohnhäuser. Topfpflanzen tauchen sie im Sommer in ein grünes Licht, in der Mitte flüstert zumeist ein Springbrunnen. Alle Zimmer öffnen sich auf diesen Innenhof. Doch so ein Innenhof hat auch seine Schattenseiten, wie Abdel Hayy Kaddour erklärt, der in der Altstadt ein altes Haus zum Hotel umgebaut hat.

    "Diese Häuser sind open air, der Regen kommt rein, Staub, und viele junge Familien sagen: Oh nein, ich bleibe nicht in diesem Haus, das muss man jeden Tag putzen und viel Arbeit – oh in der neuen Stadt haben wir eine moderne Küche, einen Balkon und so."

    Das sieht auch Jenny Poche-Marrache so. Sie ist Nachfahrin europäischer Juden und Christen und Witwe eines Syrers: eine typisch levantinische Mischung. Vor über 60 Jahren ist sie hier im Souq geboren und aufgewachsen, doch nach ihrer Heirat zog sie in ein Neubauviertel. Seither kommt sie nur noch einmal die Woche her, immer freitags, und zeigt Besuchern die alte Familienresidenz. Es ist nicht irgendeine Wohnung, in der sie aufgewachsen ist – es ist ein Palast.

    "Mein Urgroßvater besaß eine Kristallmanufaktur in Böhmen, in einem kleinen Ort namens Kreibitz. Er kam in sehr jungen Jahren hierher, um Handelskontore für böhmisches Kristall zu eröffnen. Aleppo war eine sehr offene Stadt. Mein Urgroßvater kam also 1805 in Aleppo an und heiratete hier, ließ sich in diesem Haus nieder und kehrte nie wieder nach Böhmen zurück. Und die Familie ließ sich hier nieder."

    Die Familie Poche kam schnell zu Wohlstand und Ansehen. Ein Sohn des Kristallfabrikanten wurde zum Ehrenkonsul Belgiens, der Vereinigten Staaten, Russlands und der Niederlande ernannt und eröffnete in seiner Wohnung ein Konsulat. Von der Gasse gelangt man gebückt durch eine niedrige Holztür in einen Hof, von dem eine unscheinbare Treppe hinaufführt zum Haus Poche. Dort betritt der überraschte Besucher einen Palast mit hohen Zimmerdecken, Gobelins an den Wänden, alten Teppichen auf den Fußböden und Wappenschilden aus der Zeit des Konsulats. In einer vier Meter hohen Vitrine steht Kristall aus der Produktion des böhmischen Vorfahren. Jenny Poche-Marrache bedauert es, dass ihr Elternhaus nun verwaist ist, aber dorthin zurückziehen möchte sie nicht.

    "Es ist schwierig, in die Altstadt hinein zu kommen, vor allem, wenn man zu einem Diner oder einem Ball geht – man kann in den Souqs nicht mit Absätzen laufen. Deshalb ziehen die Leute moderne Orte vor, wo man das Auto gleich gegenüber parken kann."

    Ach ja, das Auto. Die Gassen des Souqs gehören den Fußgängern. Nur gelegentlich werden sie von einem waghalsigen Fahrrad- oder Mopedfahrer, einem Pick-up oder einem Lastenesel zur Seite gedrängt. Die Touristen freut's – aber die Einheimischen möchten eben, wie die meisten bei uns auch, am liebsten direkt vor der Tür parken.

    Der Souq ist heute ein Einkaufszentrum für Bauern, Arme und für die paar Touristen, die den Weg nach Syrien finden. Das ist Segen und Fluch zugleich. Ein Segen, weil dieser Bazar dadurch seine Originalität behalten hat und noch nicht zum Disneyland-Orient verkommen ist wie seine Pendants in Kairo, Istanbul oder Marrakesch. Ein Fluch jedoch, weil er sich von innen heraus nur schwer modernisieren kann.

    Mit ihrem Projekt zur Sanierung der Altstadt von Aleppo hat die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit zwar versucht, dem Verfall Einhalt zu gebieten. Hat das Kanalisationsnetz erneuert und modellhaft einige Häuser restauriert. Das war ein Anschub – doch die Hauptinitiative muss von den Einheimischen kommen. Ansätze dafür gibt es. Abdelhayy Kaddour zum Beispiel hat kürzlich das zweite Altstadthaus zum Hotel umgewandelt. Bislang kommen nur ausländische Touristen zu ihm – syrische Touristen ziehen moderne Hotels in der Neustadt vor. Aber Kaddour hat die Hoffnung, dass sich das ändert und mit der Zeit auch die Einheimischen ihren Kulturschatz wieder zu schätzen lernen werden.

    "Die reichen, großen Familien, die in der Neustadt wohnen, gehen gerne – Nostalgie – zwei, drei Freundinnen sagen oh ja, gehen wir in al-Medina zu kaufen Gewürze oder Stoff und kommen zurück nach die Altstadt. Das ist wie Tourismus, aber auch oh ja, erinnern sie meine Mutter, als sie in den Souq ging und Gewürze kaufte und die typische Medizin mit Pflanzenmedizin. Und viele kommen jetzt in die Altstadt."

    Da kann man nur sagen: Nichts wie hin, bevor die Altstadt von Aleppo zu einem hippen Event wird, in dem Einheimische und Ausländer einander auf die Füße treten.