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"Orientierung zwischen Forschung und Gesellschaft"

Was Henning Ritter mit der "Geisteswissenschaften"-Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufgebaut hat, ist einmalig in ganz Europa, sagt Michael Krüger, Verlagsleiter bei Hanser. Ritter wollte lesen und erklären, eines jedoch nie: Lehrer sein.

Michael Krüger im Gespräch mit Beatrix Novy | 24.06.2013
    Beatrix Novy: Wer die Frankfurter Allgemeine Zeitung liest, und das zumal am Mittwoch, kennt den Namen Henning Ritter. Bis 2008 leitete er dort das Ressort Geisteswissenschaften, die Beilage mit diesem Titel erscheint mittwochs, Henning Ritter hatte sie eingeführt. Aber nicht nur das machte den gestern Verstorbenen zu einem herausragenden Publizisten – sonst wäre er nicht Träger des Börne-Preises gewesen, für den ihn der Hanser-Verlagsleiter Michael Krüger vorgeschlagen hatte. Michael Krüger habe ich gefragt, warum Henning Ritter, den man sich auf einem Lehrstuhl sehr gut vorstellen konnte, und Einiges in seiner Vita deutete auch darauf hin, warum hat er diese Laufbahn nicht eingeschlagen?

    Michael Krüger: Er hat einen bestimmten Typus von akademischem Lehrer geradezu gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Er wollte nicht in die Routine des Lehrbetriebs kommen, er wollte nicht in den Fußnoten herumwaten. Henning war in erster Linie ein Leser, einer der genialsten Leser, die ich je gesehen habe. Er hat sich ja nicht nur für Literatur und Philosophie interessiert, sondern eben auch für die Kunst, für die Kunstgeschichte, für die Geschichte der Naturwissenschaften. Wir haben ja zusammen seit '73 die Reihe Hansa Anthropologie mit Wolf Lepenies herausgegeben. Da verstand man, was er unter Anthropologie verstand, also den ganzen Bereich der Ethnologie, aber eben auch der Historischen Anthropologie und so weiter. Er war jemand, der nicht zufriedenzustellen war mit einem Lehrstuhl, der sich an bestimmte Lektüren festhalten muss, um ein Semester zu überstehen. Das kam für ihn nie infrage. Er war der antiakademischste Akademiker, den ich kenne.

    Novy: Und seine Interessensgebiete weit gefächert, was ihn ja zu einem echten Bildungsbürger machte. Das aber scheint mir ja nicht ein Selbstzweck gewesen zu sein, Bildungsbürger zu sein. Was hielt das alles, was ihn interessierte, zusammen? 1943 ist er geboren, dem Datum nach war er ein Kandidat für die Studentenbewegung.

    Krüger: Ja, so habe ich ihn auch kennengelernt. Wir sind beide Jahrgang '43. Er stand den Ständen jener Zeit sehr nahe, aber er war trotzdem immer ein distanzierter Mensch geblieben, der sich lieber an den Büchern festhielt als an den Parolen. Er war gut befreundet mit dem Philosophen Jacob Taubes, der in vielfältiger Weise in die Studentengeschichte mit eingebunden war, und trotzdem blieb er immer der Beobachter, der Außenseiter, derjenige, der sich dann doch lieber in die Lektüre vertieft hat als in die Aktion.

    Novy: Was würden Sie sagen, was seine besondere oder auch singuläre Leistung gewesen ist in dem Feld, wo er wirkte? Was hat er über seine Zeitung, die FAZ, hinaus für den Journalismus oder die Publizistik bewirkt?

    Krüger: Ich finde, die Seite "Geisteswissenschaften", die unter seiner Ägide entstanden ist und die ja heute noch existiert, ist in Deutschland oder auch in Europa als Seite in einer Tageszeitung doch einmalig. Das heißt eine Seite, die über die Forschung Auskunft gibt, über sehr vielfältige Forschung, die aber gleichzeitig in großen Beiträgen versucht, eine Orientierung zwischen Forschung und Gesellschaft herzustellen. Ganz besonders gemocht habe ich seine ganz kurzen Glossen, die er immer an der rechten Seite seiner Seite der "Geisteswissenschaften" angebracht hat, wo er versucht hat, begriffsgeschichtliche Zusammenhänge herzustellen, woher kommt das Mitleid, wann ist der Begriff des Mitleides zuerst aufgetreten. Er war immer von einem unendlichen Interesse, solche gewissermaßen archäologischen Sachverhalte mit der Moderne zu verbinden.

    Novy: Einer, der sein Wissen für viele nutzbar machte – Sie hörten Michael Krüger zum Tod von Henning Ritter.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.