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Orientierungsphase

Pro Jahr interessieren sich bundesweit zwei- bis dreihundert blinde oder sehbehinderte Abiturienten für ein Hochschulstudium. Nicht alle setzen ihren Wunsch in die Tat um, viele holen sich nicht die Unterstützung, die ihnen zusteht. Das Studienzentrum für Sehgeschädigte an der Universität Karlsruhe will das ändern. Seit Montag veranstaltet es auf dem Karlsruher Unicampus eine Orientierungsphase für Sehgeschädigte aus ganz Deutschland.

Von Rebecca Müller |
    Die wenigsten Teilnehmer bewegen sich mit dem typischen weißen Taststock für Blinde vorwärts. Viele tragen dafür Brillen mit extradicken oder abgedunkelten Gläsern. Die 19-jährige Katrin würde man gar nicht zur Gruppe zählen. Ihre hellblauen Augen wirken aufgeweckt und neugierig. Ihre Sehkraft allerdings ist stark eingeschränkt. Katrin ist extrem kurzsichtig, lichtempfindlich und zum Lesen braucht sie spezielle Sehhilfen. Zu den Orientierungstagen des Studienzentrums ist sie extra aus dem Emsland nach Karlsruhe gereist:

    " Ich hatte bis jetzt überhaupt keine Kenntnisse darüber, inwiefern ich jetzt was beantragen kann oder was mir zusteht. Wie das jetzt ist mit der Rechtslage und welche Hilfeleistungen man beanspruchen kann. Also dass man zum Beispiel einen Anspruch darauf hat, vorne sitzen zu können, das ist schon mal ganz nützlich, denk ich, und wird einem auf jeden Fall weiterhelfen. "

    Katrin ist fest entschlossen, sich nicht mehr zurückzunehmen. Die Abiturientin hat keine Sonderschule besucht, sondern ist auf ein normales Gymnasium gegangen. In ihrer Klasse war es ihr unangenehm, ständig aufzufallen - weil sie Texte nicht so schnell lesen kann und bei Klausuren mehr Zeit gebraucht hat.

    Die Orientierungstage machen ihr neuen Mut:

    " Es ist sehr hilfreich, das man mehrere Leute getroffen hat, die das gleiche haben. In meiner Stadt kannte ich niemanden und hier sieht man einfach, dass es mehrere Leute gibt, die ähnliche Probleme haben, und es war auf jeden Fall sehr nützlich, weil man sich dann nicht mehr so alleine vorkommt. "

    An der Karlsruher Uni sind rund 50 sehgeschädigte Studenten eingeschrieben. Unter ihnen Lukas, mittlerweile ein alter Hase auf dem Campus. Lukas ist blind und studiert Wirtschaftsingenieurwesen im vierten Semester. Er versichert: Die Studienanfänger müssen keine Angst vor der neuen Lebensphase haben:

    " Meine Studienkollegen hab ich wirklich sehr aufgeschlossen erlebt. Das hat mich wirklich positiv überrascht. Die haben das irgendwo ein Stück weit als selbstverständlich und mich da dann einfach immer mitgenommen. Und das ist was, wo's sehr viel einfacher macht. "

    In seinem Jahrgang ist Lukas der einzige blinde Student. Er hat sich mit seiner Situation arrangiert und fühlt sich wohl an der Uni. Den kommenden Erstsemestern rät er:

    " Einfach offen sein, auf die Leute zugehen, anfangen das Studentenleben zu genießen und einfach Mut haben, es probieren und es durchziehen. "

    Den Alltag organisieren, bürokratische Hürden überwinden, Prüfungen vorbereiten - das fällt vielen Studienanfängern schwer. Welche Herausforderungen sehgeschädigte Studenten meistern müssen, erklärt Mobilitätstrainerin Birgit Lang:

    " Das sind im Prinzip die gleichen Anforderungen, nur dass die Blinden oder hochgradig Sehbehinderten ganz viele Schwierigkeiten haben. Die stehen an der Haltestelle, fragen nach der Linie und dann sagt jemand: Ja, kannst du nicht lesen, oder was? Dann müssen die so fit sein - und das ist eine Herausforderung - zu sagen: Ganz genau, ich kann nicht lesen, ich bin hochgradig sehbehindert, können Sie mir jetzt bitte helfen. "

    Ab einem bestimmten Grad der Sehbehinderung haben Betroffene gesetzlich Anspruch auf einen Mobilitätstrainer. Mit ihm üben sie ihre täglichen Wege ein: vom Wohnheim zum Vorlesungssaal, zum Supermarkt, zum Bahnhof.

    Solche Angebote ermutigen immer mehr Sehgeschädigte zu einem Studium. Allerdings sind viele Hochschulen in Deutschland noch nicht darauf eingestellt, so Birgit Lang:

    " Da würde ich bei der Uni anrufen, würde nach dem Behindertenbeauftragten fragen, würde nachfragen im Asta, ob da irgendwie Leute sind, die schon mit Blinden und Sehbehinderten Berührung hatten und über die versuchen rauszukriegen: geht das, wollen die das, die Unis. Und man muss kucken, kann man als Blinder das studieren, was man sich vorstellt oder gibt's da einfach auch Einschränkungen. "

    Marc aus Stuttgart hat seine Wahl getroffen: Der 20-Jährige möchte in Karlsruhe Informatik studieren. Wie die meisten haben auch ihn die Orientierungstage in seinen Plänen bestärkt:

    " Ganz so klar war es nicht, ich hab schon irgendwo gezweifelt, weil sehr viel Mathe dabei is. Und dann ist es nicht nur die Frage vom fachlichen her, sondern wie setze ich's teilweise wirklich um. Und da hab ich mir auch überlegt, soll ich's wirklich machen, soll ich's nicht machen? Schaff ich's? Aber jetzt bin ich wirklich zuversichtlich, da lässt sich was machen. "