Montag, 29. April 2024

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Orientierungssinn
Menschliche Probanden im Wasserlabyrinth

Neurowissenschaften. - Wie räumliches Lernen funktioniert, untersuchen Forscher bei Mäusen mit dem Wasserlabyrinth nach Morris. Die Tiere müssen in einem Wassertank schwimmend eine nicht sichtbare Plattform unter der Wasseroberfläche finden. Der Test dient auch dazu, die Orientierungsfähigkeit zu überprüfen. Ob sich diese Methode auf menschliche Probanden übertragen lässt, wollen Wissenschaftler von der Technischen Universität Chemnitz und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Dresden herausfinden und schickten deshalb am Stausee Rabenstein Sportstudenten ins Wasser.

Von Magdalena Schmude | 17.07.2014
    Der US-amerikanische Schwimmer Randall Bal in Aktion am 17.06.2007 über 100 Meter Rücken beim Golden Bear Meeting in Zagreb, Kroatien. Er gewann den Wettkampf über diese Distanz.
    Die Orientierung im Wasser fällt Schwimmern nicht ganz leicht. (picture-alliance/ dpa / epa Antonio Bat)
    "Vorsichtig, wir sind gleich im Wasser drin"
    "Der nächste Schritt geht dann rein"
    "Sehr gut. OK!"
    Stefan Nuß, Sportstudent an der Technischen Universität Chemnitz, steht bis zur Hüfte im Wasser. Er trägt einen dunkelblauen Neoprenanzug, eine leuchtend pinke Badekappe und eine Schwimmbrille, deren Gläser mit grauem Klebeband blickdicht verklebt sind. Im Wasser vor ihm markiert ein blauer Schlauch ein kreisrundes Areal, in dem Stefan gleich eine virtuelle Plattform suchen soll. Fünf Minuten hat er Zeit, um in dem Kreis mit 18 Metern Durchmesser die Stelle zu finden, die als Zielort festgelegt ist.
    "Wenn es geht, dann sagst Du Bescheid, und dann schwimmen wir zusammen los."
    Wichtig dabei: Stefan soll sich innerhalb des Kreises komplett neu orientieren müssen. Er darf ihn vor dem Experiment nicht von außen gesehen und sich zum Beispiel markante Punkte am Ufer eingeprägt haben. Deshalb trägt er die abgeklebte Schwimmbrille, wird von einem Kommilitonen ins Wasser geführt und – blind an einer dicken gelben Boje hängend - bis in den Kreis gezogen. Dann geht es los.
    Stefan nimmt die Schwimmbrille ab, sieht sich kurz um und beginnt, den Kreis systematisch abzusuchen. Er durchschwimmt die obere Hälfte des Areals von links nach rechts, wendet an der äußeren Begrenzung und schwimmt ein Stück versetzt in die entgegengesetzte Richtung zurück. Eine Videokamera, die mit einem Gummiband über seiner Badekappe befestigt ist, filmt die Suche aus seiner Perspektive. Eine weitere Kamera am Ufer des Sees nimmt die Außenperspektive auf.
    "Es war halt immer knapp daneben"
    Dort steht auch Alexander Garthe vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und beobachtet auf dem Bildschirm seines Laptops, ob Stefan den Bereich überschwommen hat, den die Forscher zuvor ohne sein Wissen als Zielort festgelegt haben. Bisher hat Stefans System nicht zum Erfolg geführt.
    "Es war halt immer knapp daneben. Das sind ja wie gesagt nur dreißig mal dreißig Zentimeter ungefähr."
    Vom Ufer aus ist der Kreis einfach überschaubar. Doch die Perspektive täuscht. Die Probanden suchen im Wasser eine Fläche von gut 250 Quadratmetern nach der unsichtbaren Zielmarke ab. Die meisten gehen deshalb systematisch vor, wie Alexander Garthe durch die Auswertung der Videoaufnahmen weiß.
    "Entweder fangen die ganz planvoll an, schwimmen solche Spiralmuster, Gittermuster und dergleichen oder sie schwimmen ganz am Rand lang, das kennt man auch von den Mäusen."
    Nicht präzise genug
    Die Aufnahmen der Kamera auf Stefans Kopf zeigen außerdem, zu welchen Punkten am Ufer er hinsieht, um sich zu orientieren. Weil sein Kopf nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragt, fehlt ihm die räumliche Übersicht und er kann seine eigene Position im Kreis nur mit Hilfe dieser Landmarken bestimmen. Bei seinem ersten Versuch navigiert Stefan nicht präzise genug und schwimmt bis zum Ende der Zeit knapp am richtigen Punkt vorbei.
    "Zeit ist um!"
    Alexander Garthe: "So, hier in diese Richtung. Weiter hier rüber. Weiter nach da."
    Alexander Garthe dirigiert Stefan vom Ufer aus zur festgelegten Zielposition, die er sich für den nächsten Versuch merken soll. Sobald er die virtuelle Plattform erreicht hat, bekommt Stefan erneut ein akustisches Signal. Er muss sofort die Brille aufsetzen und wird von einem Kommilitonen aus dem Kreis dirigiert.
    "OK, kannst mir ein bisschen entgegen schwimmen, zu meiner Stimme, ja, sehr gut. Weiter, weiter, weiter."
    Vier Mal muss jeder der 20 Probanden insgesamt ins Wasser. Dabei kann er bei jedem neuen Durchgang auf das Wissen aus den vorherigen Versuchen zurückgreifen. Beim zweiten Anlauf weiß Stefan schon, in welcher Hälfte des Kreises er nach der Zielmarke suchen muss. Er findet die richtige Position nach 1:42 Minuten. Beim dritten Mal kennt Stefan bereits den richtigen Quadranten und ist nach 14 Sekunden am Ziel. Im seinem Kopf ist eine virtuelle Karte des Kreises entstanden, auf der die Landmarken am Ufer die Richtungen anzeigen. Beim vierten und letzten Durchgang erhöhen die Forscher deshalb den Schwierigkeitsgrad. Während eine Drohne über ihren Köpfen kreist, die den Versuch auch aus der Vogelperspektive aufzeichnet, wird Stefan dieses Mal auf der Seite des Kreises abgesetzt, die am weitesten von der Zielposition entfernt liegt. Alexander Garthe beobachtet auch dieses Experiment vom Ufer aus.
    27 Sekunden bis zur richtigen Position
    "Wir haben gesehen, er hat jetzt einen Haken geschlagen, hat eine neue Perspektive gesucht und hat dann das Ziel sofort gefunden. Das ist eben das große Geheimnis, dass er tatsächlich jetzt diese ganzen Lernerfahrungen dieser einzelnen Durchgänge kombiniert hat und in der Lage war, von einem anderen Startpunkt aus, aus einer anderen Perspektive heraus das Ziel relativ schnell und zuverlässig zu finden."
    Diesmal hat Stefan 27 Sekunden gebraucht, um zur richtigen Position zu schwimmen. Als er aus dem Wasser steigt, ist er sichtlich erschöpft. Er hatte sich die Aufgabe einfacher vorgestellt.
    "Das Problem dabei war, dass man wirklich sich im Wasser sehr schwer orientieren kann, und dann immer gerade zu schwimmen war schon problematisch. Aber zum Schluss habe ich gemerkt, ich hab dann immer schneller den Punkt gefunden."
    Stefan ist Anfang zwanzig. Dass er sich im Wasserlabyrinth nach wenigen Versuchen gut zurechtfinden würde, hat Alexander Garte erwartet. Doch die Fähigkeit, sich in einer neuen Umgebung zu orientieren, nimmt mit dem Alter ab, weil das Gehirn immer schlechter in der Lage ist, neue Nervenzellen zu bilden und so die nötigen Informationen zu speichern. Abnehmende Orientierungsfähigkeit kann aber auch ein Signal für beginnende Demenz sein. Deshalb haben die Forscher am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen ein Computerspiel entwickelt, das auf dem Prinzip des Wasserlabyrinths basiert. Bisher konnten sie aber nur vermuten, dass das Spiel tatsächlich die gleichen kognitiven Fähigkeiten abfragt wie der Test im Wasser. Das reale Erleben der Situation und die körperliche Aktivität könnten Einfluss auf die Ergebnisse haben. Nach den Versuchen am Rabensteiner Stausee ist Alexander Garthe zuversichtlich.
    "Diesen Verbindungsschritt , den mussten wir jetzt eben machen. Aber: mission accomplished, wir haben wirklich alles gezeigt."