Musik: Orlando di Lasso, "Surge propera amica mea"
Seit etlichen Jahren macht Leonardo García Alarcón mit inspirierten CD-Produktionen von sich reden. Vor allem mit seiner Cappella Mediterranea hat er schon manchen Schatz aus den Archiven gehoben. Seit sechs Jahren leitet García Alarcón außerdem den Chœur de Chambre de Namur – ein Spitzenensemble unter den europäischen Kammerchören, das sich vor allem der Alten Musik verschrieben hat. Auch mit dem in Belgien beheimateten Ensemble hat García Alarcón inzwischen etliche CD-Produktionen vorgelegt – jetzt also Musik des Renaissancemeisters Orlando di Lasso. "Canticum Canticorum", so lautet der Titel der CD, die den Fokus auf Lassos Vertonungen von Versen aus dem Hohelied legt. Dieses "Canticum Canticorum" gehört zu den poetischsten Texten des Alten Testaments, und das hat seinen Grund: Eigentlich beruht es auf weltlichen Liebesliedern, die dem weisen König Salomon zugeschrieben werden. So fanden die sinnlichen Texte überhaupt erst ihren Weg in den biblischen Kanon, natürlich in einer theologischen Deutung: Mann und Frau – Braut und Bräutigam –, die in den Texten des Hoheliedes auftreten, wurden zum Sinnbild der Liebe zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Christus und einer gläubigen Seele. Seit dem Mittelalter sah man im weiblichen Part dann auch gerne die Gottesmutter Maria, als Mittlerin zwischen Himmel und Erde.
Bei aller theologischen Auslegung bleibt die Sinnlichkeit der Texte doch spürbar – und sie schwingt auch in Lassos Musik mit; zum Beispiel in seiner Motette "Osculetur me osculo meo". In ihr vertont Lasso jene Verse, die das Hohelied eröffnen: "Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes, den deine (!) Liebe ist lieblicher als Wein."
Musik: Orlando di Lasso, "Osculetur me osculo"
Die Meister der franko-flämischen Vokalpolyphonie haben die poetischen Texte des Hoheliedes häufig vertont. Giovanni Pierluigi da Palestrina hat sogar einen ganzen Zyklus von Motetten darüber geschrieben. Eine so prominente Rolle gab Orlando di Lasso diesen Texten in seinem Werk nicht, aber in den vielen Motetten-Sammlungen, die er im Laufe seines langen Lebens schrieb, lässt er immer wieder Hohelied-Vertonungen einfließen. Leonardo García Alarcón hat sie jetzt sozusagen posthum zu einem kleinen Zyklus zusammengestellt. Das ist ein reizvolles Konzept, weil so ausdrucksstarke Sätze aus unterschiedlichen Lebensphasen Lassos nebeneinander stehen. Ihre Bandbreite reicht von der intimen Vierstimmigkeit bis zu klangvollen acht Stimmen.
Auf Vielfalt setzt García Alarcón auch in der Besetzung der einzelnen Werke. Mal ist der "Chœur de Chambre de Namur" in seiner (wohltuend schlanken) Tuttibesetzung zu hören, mal stellt García Alarcón daraus ein Solistenensemble zusammen. Mal präsentiert er die Werke a cappella, mal gibt er den Sängern verschiedene Instrumentalisten des Ensembles "Clematis" an die Seite. So bekommt jeder Satz eine individuelle Klangfarbe.
Musik: Orlando di Lasso, "Veni in hortum meum"
"Veni in hortum meum" – "Ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester, liebe Braut. Ich habe meine Myrrhe samt meinen Gewürzen gepflückt; ich habe meine Wabe samt meinem Honig gegessen; ich habe meinen Wein samt meiner Milch getrunken. Esst, meine Freunde, und trinkt und werdet trunken von Liebe!"
Sie wirken schon erstaunlich weltlich, diese Texte aus dem Hohelied, die Orlando di Lasso in seinen Motetten vertont hat. Dass es in seinem Œuvre immer wieder Moment gibt, in denen die Grenzen zwischen Weltlichem und Geistlichem verschwimmen, zeigt García Alarcón unter anderem auch an einer von Lassos "Magnificat"-Kompositionen. Den biblischen Lobgesang der Maria hat Lasso mehr als einhundert Mal vertont. Das liegt zum einen daran, dass dieser hymnische Text eine wichtige Rolle in den katholischen Vesper-Feiern spielt, die ja oft musikalisch gestaltet werden. Es mag aber auch an Lassos beruflicher Konstellation liegen: Fast 40 Jahre lang – zwischen 1556 und 1594 – wirkte er am Wittelsbacher Hof in München, die meiste Zeit davon als Hofkapellmeister. Und sein langjähriger Dienstherr, Wilhelm der Fromme, war ein glühender Marienverehrer. Es dürfte also ganz im Sinne des Herzogs gewesen sein, dass sein Hofkapellmeister den prominentesten Marientext der Bibel immer wieder in ein neues Klanggewand hüllte. Lasso machte aus der Not eine Tugend und experimentierte in seinen Magnificat-Vertonungen mit einem Stilmittel, das in der Renaissance vor allem in den Mess-Vertonungen hoch im Kurs stand: der so genannten Parodie, bei der eigene Werke oder die der Kollegen zitiert und weiterentwickelt werden. Damals hatte man dabei keine urheberrechtlichen Bedenken, im Gegenteil: Solche Zitate galten als Ausdruck einer besonderen Wertschätzung. Allein die Kleriker bekamen gelegentlich Bauchschmerzen, etwa wenn die Komponisten in ihren geistlichen Werken auf weltliche Vorlagen zurückgriffen.
Lasso störte das offensichtlich wenig. In dem Magnificat, das García Alarcón für sein Programm ausgesucht hat, zitiert er unter anderem das weltliche Madrigal "Anchor che col partire" von seinem älteren Kollegen Cipriano de Rore. Darin ist vom Abschied und vom Wiedersehen zweier Liebenden die Rede.
Musik: Orlando di Lasso, "Magnificat"
Mit ihrer neuen Produktion führen García Alarcón, sein "Chœur de Chambre de Namur" und das Ensemble "Clematis" einmal mehr vor Augen, wie abwechslungsreich die franko-flämische Vokalpolyphonie sein kann. Alarcón gestaltet Lassos dichte und durchaus wortausdeutende Musik mit großer Differenziertheit. In seiner mal zupackenden, dann wieder ganz innigen Interpretation verleiht er den Werken eine bemerkenswerte Lebendigkeit. Die wechselnden Vokal- und Instrumentalbesetzungen wirken durchdacht und geben jedem Satz einen eigenen Charakter.
In der Aufführungspraxis franko-flämischer Vokalpolyphonie der vergangenen Jahrzehnte hat man oft eine ästhetisierende Zurückhaltung gepflegt, die wortausdeutende Details der Musik gerne mal nivellierte. Das ist erfreulicherweise passé, was aber nicht heißt, dass García Alarcón auf fließenden Wohlklang verzichtet. Der finden sich unter anderem in Lassos "Missa super Susanne un jour", die das Programm stimmig abrundet. Auch diese Messe beruht auf einer Vorlage, die sich zwischen Weltlich und Geistlich bewegt. Diesmal zitiert Lasso ein eigenes Werk, ein Chanson, die die biblische Geschichte von Susanna im Bade erzählt: Die junge Frau wird von zwei lüsternen Greisen belästigt, will aber lieber sterben, als ihre Keuschheit zu verlieren. Im 16. Jahrhundert war Lassos weltlich anmutende Chanson ein regelrechter Gassenhauer. Er konnte sich also ziemlich sicher sein, dass seine Zuhörer wussten, worauf er sich in seiner Messe berief.
Musik: Orlando di Lasso, "Kyrie" aus: "Missa super Susanne un jour"
In der Neuen Platte in Deutschlandfunk haben wir heute die jüngste Produktion des argentinischen Dirigenten und Cembalisten Leonardo García Alarcón vorgestellt. Zusammen mit seinem "Chœur de Chambre de Namur" und dem Instrumentalensemble "Clematis" präsentiert er unter dem Titel "Canticum Canticorum" Hohelied-Motetten, ein Magnificat und die "Missa super Susanne un jour" von Orlando di Lasso. Die CD ist gerade bei dem Label Ricercar erschienen und in Deutschland im Vertrieb Note 1 erhältlich. Im Studio verabschiedet sich Helga Heyder-Späth mit Dank fürs Zuhören.
Orlando di Lasso: "Canticum canticorum", Chœur de Chambre de Namur, Clematis, Leitung: Leonardo García Alarcón, Ricercar RIC 370 (Vertrieb Note 1), LC 08851