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"Orphée et Eurydice"

Als die Choreografin Pina Bausch 1975 ihr Debüt am Pariser Palais Garnier mit Glucks Oper "Orphée et Eurydice" gab, ging es im Wesentlichen um Fragen nach dem Wesen der Liebe und weniger um die genaue Nacherzählung des Mythos um Orpheus und Eurydike. Jetzt ist ihr Stück ins Repertoire der Pariser Oper aufgenommen worden.

Von Susanne Lettenbauer |
    Für Pina Bausch gibt es kein Happy End, nicht einmal eine Ouvertüre. Sie will den Schmerz in ihrer Orpheus-Choreografie jetzt und hier ausloten. Zwei Stunden lang. Tiefer kann ein Mensch nicht fallen in seiner Trauer als ihr Pariser Orfeo. Blossgestellt, nackt, rasend vor Verzweiflung. Seine verlorene Liebe hat ihm die Balance genommen, ihn seiner Haltung entblösst. Pina Bausch schickt ihren Tänzer Yann Bridard noch vor dem Gang in den Hades durch die Hölle. Sein singendes Pendant in unscheinbarem Kostüm sinniert derweil fürsorglich über das Geschehende.
    Pina Bausch hält sich nicht lange auf mit der bekannten Handlung vom Schlangenbiss, von Amors Versprechen, die Geliebte Eurydike dem Totenreich zu entreissen und dem misstrauischen Blick, der alles zunichte macht. Einzig die drei Sängerinnen erinnern daran, dass hier ja eine Oper gegeben wird und kein Werk "Ohne Titel", wie so oft bei Pina Bausch.

    Ihre Choreografie ist eine bohrende Frage nach dem Wesen von Liebe. Dem Geheimnis dieses faszinierend verstörenden Gefühls. Der alte Mythos vom griechischen Sänger aus Ovids Metharmorphosen ist nur die Plattform dafür. Liebe heisst bei Pina Bausch Wehrlosigkeit. Der Abgrund des Hades liegt hinter spiegelndem Glas, das die Verzweiflung endlos auf den Trauernden zurückwirft. Inmitten der synchron dahingleitenden Schatten, sie ebenfalls halbnackt unter schwarzen Schleiern, erscheint die Hoffnung im weissen Kleid, der Amor von Miteki Kudo, eine der Tänzerinnen aus "Le Sacre du Printemps", wegen der Pina Bausch jetzt nach Paris zurückkehrte und sich auch weitere Werke mit dem Ensemble vorstellen kann.

    Fast gerät an diesem Bausch-Abend in Vergessenheit, dass genau dieses hilflose Wüten im Angesicht des Todes das erste Mal vor 30 Jahren über die Bühne ging, damals mit Bauschs Wuppertaler Haustruppe. Dann noch einmal 1993 in Paris. Die Wuppertalerin, die sich seit kurzem "Chevalier de l'Ordre National de la Légion d'Honneur" nennen darf, folgte vor über zehn Jahren einem "künstlerischen Abenteuer des Hauses", wie es von Seiten der Oper heisst. "Iphigenie auf Tauris" machte den Anfang, "Le Sacre du Printemps" folgte. Und das Publikum war hingerissen.
    Spätestens seit gestern ist Pina Bausch nun unsterblich. Unsterblich wie ihre Version von Glucks Orpheus und Eurydike.

    Aus dem Wuppertaler Archiv hat Gerard Mortier ihr Werk direkt in den Olymp der Tanzkunst gehoben. Da steht sie nun neben George Balanchine, Rudolf Nurejew, Marius Petipa. Und doch fragt man sich, warum Pina Bausch dem Stück keine neuen Ideen hinzufügen wollte. Fragen lässt sie sich nicht, also bleibt ein Misstrauen gegenüber der Veteranin aus dem Jahr 1975.

    Hat sich in drei Jahrzehnten die Grundidee des Choreografierens in Wuppertal nicht geändert oder wollte die Pariser Oper wirklich nur eine Pretiose mehr im Schatzkästchen? Keine Frage, man könnte das Werk als Bestandsaufnahme aus einer anderen Epoche von Tanzkultur und vor allem Barockmusikkultur sehen. Augenfällig dann, wenn im zweiten Akt das Bühnenbild des 1980 verstorbenen Rolf Borzik die makellose und blutleere Schönheit des Elysiums in eine homoerotische Pierre et Gilles-Ästhetik verpackt: Trostlos berankte Blumensofas vor bunten Blumenrabatten und mitleidlose Henker des Hades mit Lederschürze um den nackten Leib beim furiosen Ballett .

    War die Choreografie nicht neu, so war es doch die Verpflichtung von Thomas Hengelbrock und seinem Balthasar-Neumann-Ensemble, jenem Dirigenten, der nicht davor zurückschreckt, Albert Lortzing im Mozart-Duktus zu spielen und stellenweise doppelt so schnell wie gewohnt. Glucks für KuschelklassikCds missbrauchte Orpheus-Oper hätte Hengelbrock reizen müssen mit ihren verschiedenen Fassungen - der original italienischen von 1762, dem französischen Kompromiss von 1774 und der Alternativfassung von Berlioz 1859. Doch der Abend von Paris steht nicht im Zeichen der Barockmusik. Thomas Hengelbrock dienert sich durch die Berliozfassung. Zwingt seinem auf Barockmusik spezialisierten Balthasar-Neumann-Ensemble die altmodische Interpretation der 70er Jahre auf. Die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit von der die Choreografie geprägt ist wird vom Orchestergraben mit langsamen Tempi mitgetragen.
    Ein depressives Unterfangen für jene, die Glucks Orpheus-Oper von Thomas Hengelbrock interpretiert sehen wollte und zwar nicht durch die Augen einer Choreografin:

    Doch zum Glück besteht Glucks Orpheus-Oper nicht zu 100 Prozent aus Ballettstücken. So nutzt Thomas Hengelbrock letztlich doch die wenigen Chancen und bricht aus dem Schattenreich aus. Endlich.