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Orthodoxe Christen
Kalter Friede in Estland

Zwei Kirchen – ein Estland! Eine Paradoxie in der Orthodoxie. Der Grund dafür ist das Ende der Sowjetunion. Es brachte den lange unterdrückten Konflikt zwischen Esten und russischer Minderheit im Land ans Licht. Nun sitzen sie in getrennten Kirchen. Ist das ein Weg zum Frieden?

Von Benedikt Schulz | 21.03.2018
    Kirche Johannes der Täufer in Nõmme
    Kirche Johannes der Täufer in Nõmme (Benedikt Schulz/Deutschlandradio )
    "Ich bin Toomas Hirvoja, Priester in der Kirche Johannes der Täufer in Nõmme in Tallinn."
    "Mein Name ist Madis Palli, seit Beginn der 2000er-Jahre bin ich Priester in der St. Simeon Kathedrale in der Nähe des Tallinner Hafens."
    Die Lebensgeschichten von Madis Palli und Toomas Hirvoja ähneln sich auf frappierende Weise. Beide sind sie in Estland als Kinder atheistischer, estnisch-sprachiger Eltern geboren, kurz hintereinander. Beide sind Jahrgang 1966. Madis Palli ist genau 19 Tage älter als Toomas Hirvoja. In der politischen Umbruchzeit Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre waren beide auf spiritueller Sinnsuche und landeten beim orthodoxen Christentum. Und beide nahmen die politischen Umbrüche in ihrer Heimat nur am Rande wahr.
    "Kalter Friede"
    "Ich war zu sehr nach innen gerichtet, hab mich um meine persönlichen und spirituellen Probleme gekümmert, ich war ein bisschen auf einem anderen Planeten", sagt Toomas Hirvoja.
    Madis Palli: "1990 entschied ich mich, orthodoxe Theologie in Finnland zu studieren - bis 1997."
    "Ich habe mich vor allem für Bücher interessiert, für mein Studium und meinen persönlichen spirituellen Fortschritt", sagt Toomas Hirvoja.
    Hirvoja und Palli arbeiten heute beide als orthodoxe Priester in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Doch in der getrennten Orthodoxie Estlands leben sie in getrennten Welten. Toomas Hirvoja ist Teil der Estnisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, Madis Palli gehört zur Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche. Eigentlich darf es nach orthodoxem Kirchenrecht an jedem Ort nur einen Bischof und damit eine orthodoxe Kirche geben. In Estland gibt es seit mehr als einem Vierteljahrhundert zwei.
    Madis Palli: "Man könnte sagen, wir haben eine Art Kalter Friede."
    Toomas Hirvoja: "Gott sei Dank ist es eine friedliche Koexistenz, längst nicht so schlimm wie in der Ukraine."
    Toomas Hirvoja in seiner Kirche
    Toomas Hirvoja in seiner Kirche (Benedikt Schulz/Deutschlandradio )
    Ähnlich wie in der Ukraine, wo es ebenfalls mehrere konkurrierende orthodoxe Kirchen gibt, ist die geteilte estnische Orthodoxie das Ergebnis einer komplexen kirchenpolitischen Situation – in einer postsowjetischen Gesellschaft. Und doch beginnt diese Trennungsgeschichte nicht erst mit dem Ende der Sowjetunion, sondern mit dem Zusammenbruch des russischen Zarenreichs in der Endphase des Ersten Weltkriegs.
    "Viele Einzelteile der früheren großen Russischen Kirche hatten plötzlich mehr Autonomie als je zuvor", sagt Irina Paert. Die russische Historikerin lebt seit vielen Jahren in Tallinn und hat die Geschichte der estnischen Orthodoxie erforscht.
    "Aber es gab natürlich unterschiedliche Ansichten darüber, wie die Zukunft aussehen sollte. Die Nationalisten waren auf vollständige Unabhängigkeit aus, aber es gab auch moderatere Stimmen, die Kompromisse schließen und weiterhin mit Moskau verbunden bleiben wollten."
    Wie unabhängig kann oder will die estnische Orthodoxie von Moskau sein? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die Kirchengeschichte des Landes im 20. Jahrhundert. Und mit dem Ende des Zarenreichs schien die Situation günstig, sagt Irina Paert.
    "1923 reiste eine gemeinsame Delegation finnischer und estnischer Kleriker zum Patriarchen von Konstantinopel, Meletios II. Sie baten ihn um vollständige Unabhängigkeit, um die Autokephalie. Sie wollten unabhängig sein, sowohl von Moskau als auch von Konstantinopel."
    Kampf um Unabhängigkeit
    Die Autokephalie bekamen sie nicht verliehen, auch weil bis in die Gegenwart nicht wirklich klar ist, wer in der orthodoxen Welt die Unabhängigkeit eigentlich verleihen kann. Doch der Patriarch von Konstantinopel tat etwas anderes und darauf beruft sich die Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche bis heute, wenn es darum geht, die Unabhängigkeit von Moskau zu legitimieren.
    "Der Patriarch von Konstantinopel nahm einfach beide Kirchen unter seinen Schutz. Er gewährte ihnen den sogenannten Tomos, das ist wie ein Zertifikat, das ihre Autonomie unter der Jurisdiktion des Patriarchen von Konstantinopel garantierte", sagt Irina Paert.
    Ein Coup. Doch die einmal verliehene Autonomie war schon bald wieder Geschichte. Alexander, Metropolit und damit Oberhaupt der estnischen Orthodoxie, wurde zu Beginn der sowjetischen Besatzung gezwungen zu bereuen, sprich wieder unter die Fittiche der Moskauer Kirche zurückzukehren. Kurze Zeit später floh er nach Schweden und etablierte dort einen Exil-Synod der estnischen Orthodoxie.
    "Als legitime Organisation hat die Kirche in der Emigration weiter existiert. Genauso wie die estnische Republik nach 1991 kein juristisch neuer Staat ist, sondern die Fortsetzung des unabhängigen Estlands, das vor 1940 existiert hat und das völkerrechtswidrig von der Sowjetunion okkupiert wurde."
    Sagt Madis Palli. Auch der estnische Staat sah das so, als Estland nach fünf Jahrzehnten sowjetischer Okkupation erneut unabhängig wurde. Der Exil-Synod wurde als legitimer Nachfolger der estnischen Orthodoxen Kirche anerkannt und war damit auch zuständig für alle orthodoxen Christen und Besitztümer im Land. Aber trotz aller Unterdrückung, auch während der Sowjetzeit, hatten orthodoxe Gemeinden in Estland weiter gelebt und die standen unter der Jurisdiktion von Moskau. Hinzu kommt: der Anspruch Moskaus wurde Ende der 1970er Jahre auch durch Konstantinopel anerkannt. Die orthodoxe Wirklichkeit war also komplizierter, als es der estnische Staat in den 90er Jahren wahrhaben wollte, meint die Historikerin Irina Paert und hält die Parteinahme des Staates für problematisch.
    "Die russischsprachigen Gläubigen haben das als krassen Angriff auf ihre Loyalität und ihre Identität empfunden. Dann wurde den Gemeindemitgliedern anheimgestellt, ob sie bei der für sie neuen Kirche bleiben wollen oder nicht. Manche Gemeinden blieben, andere gingen zur Kirche, die weiterhin Moskau unterstellt war."
    Konflikt zwischen Esten und Russen
    Eine Situation, in der der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel einen Bruch mit Moskau riskierte: Er setzte die Rechtslage von einst wieder in Kraft. Faktisch existieren seitdem zwei Kirchen im Land. Von außen betrachtet wirkt es wie ein Stellvertreterkonflikt zwischen den großen Patriarchaten von Moskau und Konstantinopel. Im Land selbst aber spiegelt sich in der Kirchen-Teilung vor allem der gesellschaftliche Konflikt, der den postsowjetischen Staat bis in die Gegenwart beschäftigt - zwischen estnischer Mehrheitsgesellschaft und russischsprachiger Minderheit. In der Orthodoxie Estlands sind die Verhältnisse jedoch umgekehrt: Einer kleinen Minderheit estnischsprachiger orthodoxer Christen steht eine Mehrheit russischsprachiger orthodoxer Christen gegenüber.
    Madis Palli: "Das sind natürlich vor allem Immigranten aus der Sowjetzeit und ihre Nachkommen. Diese Leute haben enge Verbindungen zu Russland. Ihr Präsident heißt Putin. Viele von ihnen sind sogar russische Staatsbürger."
    In einer kleinen Kirche im Stadtteil Nõmme im äußersten Süden von Tallinn feiert Toomas Hirvoja den Gottesdienst in russischer Sprache. Etwa 200, überwiegend russischstämmige Menschen besuchen jeden Sonntag die Messe in Nõmme.
    "Für mich fühlt es sich an wie eine Wunde im Herzen. Es sollte doch eine Kirche sein, wo Esten und Russen zusammensitzen und beten und sich gegenseitig lieben. Aber leider ist das nicht so."
    Sagt Toomas Hirvoja. Er macht die estnischen Priester und den estnischen Staat für die Teilung verantwortlich.
    "Für mich hatten sie nationale, politische, also weltliche Gründe. Die estnischen Priester wollten eine Kirche, die ein bisschen mehr estnisch ist. Was aus russischer Perspektive bedeutet, ein bisschen mehr protestantisch, sie hatten enge Verbindung zur protestantischen Kirche. Einige von ihnen waren vorher Lutheraner. Für die Russen war das eine Abkehr von der Orthodoxie zum Protestantismus."
    Madis Palli hält dagegen:
    "Wenn wir Teil einer Kirche wären, die sehr enge Verbindungen zu Moskau hat und allen Anweisungen von dort Folge leisten muss, nicht nur kirchenrechtlich, sondern auch politisch, dann wären wir in dieser Republik Estland doch in einer sehr schwierigen Situation."
    Madis Palli in seinem Büro
    Madis Palli in seinem Büro (Benedikt Schulz/Deutschlandradio )
    "Estnische Priester haben nicht verstanden, und ich glaube sie verstehen es bis heute nicht, welche spirituelle Bedeutung unsere ‚Mutter Kirche’ hat. Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen, sie wurden uns von Gott gegeben, und historisch betrachtet wurde die estnische Orthodoxie am Busen der russischen Kirche genährt", sagt Toomas Hirvoja.
    "Was ich an der Mentalität der russischen Kirche oder ihrer Rhetorik problematisch finde: Sie meinen sehr schnell, politische Fragen seien ein spirituelles Problem. Dabei handelt es sich um politische, soziale und strukturelle Probleme", betont Madis Palli.
    Gemeinsame Liturgie
    Eigentlich verbindet beide Kirchen viel - vor allem die gemeinsame Liturgie. Dennoch würden vor allem die Unterschiede betont, meint Paert. Während sich die eine für liberaler, weltoffener hält, glaubt die andere, den wahren orthodoxen Glauben gegen den Einfluss der Moderne zu verteidigen. Aber wenn man genau hinschaue, meint Paert, gehe es immer nur um Äußerlichkeiten.
    "In der estnischen Kirche können Sie während des Gottesdienstes sitzen, in der russischen müssen sie stehen. Frauen müssen hier ihr Haar bedecken, dort können sie auch ohne Kopftuch und in Hosen kommen. Diese sogenannten Unterschiede haben für viele Menschen eine große Bedeutung."
    Auf der Ebene der Gemeinden gibt es allerdings Kontakte. So haben Priester beider Kirchen regelmäßig zusammengearbeitet bei der Übersetzung orthodoxer Bücher ins Estnische. Und Madis Palli gibt gerne zu: Er habe gute Beziehungen zu Toomas Hirvoja, auch wenn sie in Fragen der Jurisdiktion unterschiedliche Ansichten hätten. Ideal sei die Situation nicht, sagen beide. Dazu Madis Palli:
    "Das Beispiel, das wir abgeben, ist problematisch. Wenn wir sagen, wir sind die eine Weltorthodoxie, dann sagen andere, hey ihr seid ja sogar im kleinen Estland in zwei Teile gespalten, wovon redet ihr da überhaupt?"