Stefan Koldehoff: Es gibt Orte, von denen man weiß, dass es dort Überwachungskameras gibt, weil sie gut sichtbar sind. US-Botschaften in aller Welt sind solche Orte, das Kanzleramt, Technologiefirmen, die sich vor Industriespionage und Museen, die sich vor Kunsträubern schützen wollen. Dann gibt es Orte, an denen man solche Kameras vermutet, Kaufhäuser zum Beispiel, in denen Ladendiebe dingfest gemacht oder abgeschreckt werden sollen. Neuerdings gehören auch Supermärkte dazu, in denen die Chefs offenbar ihren Angestellten misstrauen und, wie heute zu lesen ist, auch ein Gang, der zu den Garderoben im Kölner Opernhaus führt. Dort hatte es ebenfalls Diebstähle gegeben. Deshalb wurden zwei versteckte Kameras installiert, allerdings noch nicht eingeschaltet, weil dem der Personalrat noch nicht zugestimmt hatte. Geplant aber war der Einsatz, ohne die Mitarbeiter zu informieren. Gerhart Rudolf Baum, Sie waren Bundesinnenminister, sind bis heute einer derjenigen, die regelmäßig laut auf die Einhaltung von bürgerlichen Freiheiten und Rechten drängen. Überrascht Sie das Kölner Beispiel, das heute bekannt geworden ist?
Gerhart Rudolf Baum: Mich überrascht das schon. Ein Mitglied des Kölner Schauspiels oder eine Lidl-Kassiererin gibt ihre Grundrechte beim Pförtner nicht ab. Sie gelten auch im Unternehmen. Und nur unter besonderen Umständen sind heimliche Beobachtungen möglich. Es gibt ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das vor vier Jahren ergangen ist, und da hatte die Post in einem Briefverteilzentrum, in dem immer wieder Briefe verschwanden, Kameras für eine Überwachung während der gesamten Arbeitszeit installieren wollen. Und da hat man gesagt, dieser vage Verdacht wird nicht akzeptiert, es muss schon ein konkreter Verdacht gegen irgendeine Person bestehen. Es sind zu viele Unbeteiligte betroffen. Auch im Betrieb werden Grenzen gesetzt. Es fehlt aber ein Arbeitnehmerdatenschutzrecht, das vielfach eingefordert worden ist. Aber der Bundestag bewegt sich überhaupt nicht.
Koldehoff: Auf der anderen Seite werden in Großbritannien beispielsweise ganze Innenstädte inzwischen videoüberwacht. Das heißt, die Bevölkerung dieser Städte oder Besucher stehen unter einer Art Generalverdacht. Jeder könnte auch Täter sein, und wenn er denn irgendein Delikt begeht, dann haben wir ihn auf Video?
Baum: Ja, dass man zum Beispiel am Kölner Bahnhof neuralgische Stellen, wo immer wieder Diebe auftauchen, überwacht, das ist eine Sache. Das kann man machen, aber unter engen Voraussetzungen. Die ganz andere Frage ist, was macht man denn mit den Daten? Muss der Bürger damit rechnen, dass monate-, jahrelang, jahrzehntelang diese Bänder gespeichert werden, und man dann feststellen kann, wer war wann mit wem wie lange auf dem Bahnhof? Das geht natürlich nicht. Die Kontrolle muss einen besonderen Grund haben, die Kontrolle für Überwachungsmaßnahmen. Und Unbeteiligte dürfen keine Nachteile bekommen, ihre Daten dürfen nicht länger als unbedingt notwendig gespeichert werden. Ich habe das gesehen in Großbritannien. Wenn Sie da einen Pappbecher nicht in den Papierkorb werfen in einer kleinen Stadt, wo alles überwacht ist, dann ruft eine Stimme, bitte den Becher in den Papierkorb. Soweit sind wir schon. Orwell ist weit überholt. Wir alle sind in der Vorratsdatenspeicherung der Kommunikationsdaten jetzt für sechs Monate erfasst. Orwell würde sich die Augen reiben, was hier in den Demokratien des Westens alles schon geschehen ist.
Koldehoff: Der letzte große öffentliche Protest, an den ich mich erinnere, ist der gegen die Volkszählung gewesen.
Baum: Ja.
Koldehoff: Wenn heute protestiert wird, dann vor Gerichten. Dann sind das Einzelpersonen, die sagen, Autokennzeichenspeicherung geht nicht, Vorratsspeicherung geht nicht. Wo bleibt der große öffentliche Protest?
Baum: Ja, das ist eine gute Frage. Ich habe hier selber eine Protestkundgebung, habe ich geredet, bei einer Protestkundgebung im Dunkeln im Regen vor dem Dom in Köln. Da waren 150 Leute. Das war schon eine stolze Zahl. Eine Sensibilität, wie sie damals auch übertrieben, muss ich sagen, bei der Volkszählung bestand, die ist heute gar nicht mehr vorhanden. Obwohl wir alle irgendwo gespeichert sind, überall unsere Spuren hinterlassen, es Dateien gibt, die zusammengeführt werden, Persönlichkeitsprofile sind möglich, die das Gericht in dem wunderbaren Datenschutzurteil 1983, das Verfassungsgericht, ausschließen wollte. Diese Persönlichkeitsprofile werden munter hergestellt von privaten genauso wie von öffentlichen Stellen. Die Frage ist eben nur, wie wir alle in unserer Privatheit geschützt werden. Und wir müssen darauf bestehen, dass es staatsfreie Zonen gibt, dass die nicht immer weiter eingeschränkt werden. Eine Demokratie lebt davon, dass der Bürger in bestimmten Bereichen, zum Beispiel seiner Wohnung mit seinem Computer und in anderen Situationen, das feste Bewusstsein haben muss, er ist vollkommen frei. Er wird von niemanden beobachtet oder überwacht.
Koldehoff: Ist die Politik da überfordert? Brauchen wir so was wie eine Ethikkommission?
Baum: Wir brauchen ordentliche Gesetze. Wir brauchen dringend eine Novellierung des Datenschutzgesetzes, und wir brauchen eben einige Gesetze nicht. Ich habe Verfassungsbeschwerde gegen drei Gesetze eingelegt, die alle aufgehoben worden sind, und jetzt eine vierte betrieben gegen die Vorratsdatenspeicherung. Solche Gesetze, die unsere Freiheitsrechte gegen das Grundprinzip der Menschenwürde im Grundgesetz einschränken, die brauchen wir nicht. Dann wehren wir uns, und dass wir uns wehren können, ist ja auch eine wunderbare Errungenschaft unserer Demokratie, dass sechs Beschwerdeführer ein ganzes Gesetz zu Fall bringen können.
Koldehoff: Auch wahr. Gerhart Rudolf Baum, vielen Dank, über Deutschland, seine Freiheit und seine Kameras.
Gerhart Rudolf Baum: Mich überrascht das schon. Ein Mitglied des Kölner Schauspiels oder eine Lidl-Kassiererin gibt ihre Grundrechte beim Pförtner nicht ab. Sie gelten auch im Unternehmen. Und nur unter besonderen Umständen sind heimliche Beobachtungen möglich. Es gibt ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das vor vier Jahren ergangen ist, und da hatte die Post in einem Briefverteilzentrum, in dem immer wieder Briefe verschwanden, Kameras für eine Überwachung während der gesamten Arbeitszeit installieren wollen. Und da hat man gesagt, dieser vage Verdacht wird nicht akzeptiert, es muss schon ein konkreter Verdacht gegen irgendeine Person bestehen. Es sind zu viele Unbeteiligte betroffen. Auch im Betrieb werden Grenzen gesetzt. Es fehlt aber ein Arbeitnehmerdatenschutzrecht, das vielfach eingefordert worden ist. Aber der Bundestag bewegt sich überhaupt nicht.
Koldehoff: Auf der anderen Seite werden in Großbritannien beispielsweise ganze Innenstädte inzwischen videoüberwacht. Das heißt, die Bevölkerung dieser Städte oder Besucher stehen unter einer Art Generalverdacht. Jeder könnte auch Täter sein, und wenn er denn irgendein Delikt begeht, dann haben wir ihn auf Video?
Baum: Ja, dass man zum Beispiel am Kölner Bahnhof neuralgische Stellen, wo immer wieder Diebe auftauchen, überwacht, das ist eine Sache. Das kann man machen, aber unter engen Voraussetzungen. Die ganz andere Frage ist, was macht man denn mit den Daten? Muss der Bürger damit rechnen, dass monate-, jahrelang, jahrzehntelang diese Bänder gespeichert werden, und man dann feststellen kann, wer war wann mit wem wie lange auf dem Bahnhof? Das geht natürlich nicht. Die Kontrolle muss einen besonderen Grund haben, die Kontrolle für Überwachungsmaßnahmen. Und Unbeteiligte dürfen keine Nachteile bekommen, ihre Daten dürfen nicht länger als unbedingt notwendig gespeichert werden. Ich habe das gesehen in Großbritannien. Wenn Sie da einen Pappbecher nicht in den Papierkorb werfen in einer kleinen Stadt, wo alles überwacht ist, dann ruft eine Stimme, bitte den Becher in den Papierkorb. Soweit sind wir schon. Orwell ist weit überholt. Wir alle sind in der Vorratsdatenspeicherung der Kommunikationsdaten jetzt für sechs Monate erfasst. Orwell würde sich die Augen reiben, was hier in den Demokratien des Westens alles schon geschehen ist.
Koldehoff: Der letzte große öffentliche Protest, an den ich mich erinnere, ist der gegen die Volkszählung gewesen.
Baum: Ja.
Koldehoff: Wenn heute protestiert wird, dann vor Gerichten. Dann sind das Einzelpersonen, die sagen, Autokennzeichenspeicherung geht nicht, Vorratsspeicherung geht nicht. Wo bleibt der große öffentliche Protest?
Baum: Ja, das ist eine gute Frage. Ich habe hier selber eine Protestkundgebung, habe ich geredet, bei einer Protestkundgebung im Dunkeln im Regen vor dem Dom in Köln. Da waren 150 Leute. Das war schon eine stolze Zahl. Eine Sensibilität, wie sie damals auch übertrieben, muss ich sagen, bei der Volkszählung bestand, die ist heute gar nicht mehr vorhanden. Obwohl wir alle irgendwo gespeichert sind, überall unsere Spuren hinterlassen, es Dateien gibt, die zusammengeführt werden, Persönlichkeitsprofile sind möglich, die das Gericht in dem wunderbaren Datenschutzurteil 1983, das Verfassungsgericht, ausschließen wollte. Diese Persönlichkeitsprofile werden munter hergestellt von privaten genauso wie von öffentlichen Stellen. Die Frage ist eben nur, wie wir alle in unserer Privatheit geschützt werden. Und wir müssen darauf bestehen, dass es staatsfreie Zonen gibt, dass die nicht immer weiter eingeschränkt werden. Eine Demokratie lebt davon, dass der Bürger in bestimmten Bereichen, zum Beispiel seiner Wohnung mit seinem Computer und in anderen Situationen, das feste Bewusstsein haben muss, er ist vollkommen frei. Er wird von niemanden beobachtet oder überwacht.
Koldehoff: Ist die Politik da überfordert? Brauchen wir so was wie eine Ethikkommission?
Baum: Wir brauchen ordentliche Gesetze. Wir brauchen dringend eine Novellierung des Datenschutzgesetzes, und wir brauchen eben einige Gesetze nicht. Ich habe Verfassungsbeschwerde gegen drei Gesetze eingelegt, die alle aufgehoben worden sind, und jetzt eine vierte betrieben gegen die Vorratsdatenspeicherung. Solche Gesetze, die unsere Freiheitsrechte gegen das Grundprinzip der Menschenwürde im Grundgesetz einschränken, die brauchen wir nicht. Dann wehren wir uns, und dass wir uns wehren können, ist ja auch eine wunderbare Errungenschaft unserer Demokratie, dass sechs Beschwerdeführer ein ganzes Gesetz zu Fall bringen können.
Koldehoff: Auch wahr. Gerhart Rudolf Baum, vielen Dank, über Deutschland, seine Freiheit und seine Kameras.