"Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch - Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung" lautet der genaue Titel des Vorhabens, was zugleich grob umrissen das Ziel der über 50 forschenden Soziologen, Politikwissenschaftler und Psychologen aus Jena und Halle umreißt: die allgemeine gesellschaftliche Ebene zu verlassen und detailliert herauszubekommen, was das Handeln und Fühlen von Betroffenen in Ost-, aber auch Westdeutschland bestimmt.
Da ein solches Herangehen viel Geld kostet, wären die Forschungen ohne die insgesamt 20 Millionen Euro Fördergelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft schwerlich zustande gekommen. Betroffen sind viele, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen: So beschäftigt sich ein Forschungsbereich mit "Struktur und Handlungsorientierungen von Führungsgruppen" aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Letztere, über 700 Geschäftsführer und Manager klein- und mittelständischer Betriebe in Ost- und Westdeutschland, haben die Soziologin Katharina Bluhm und ihre Jenaer Kollegen nach gesellschaftspolitischen Orientierungen und ihrem Führungsverständnis befragt.
Angelehnt wurde dieses Teilprojekt an eine englische Studie. Es gab deutliche Unterschiede in den Antworten besonders auf soziale Belange. Das mag daran liegen, dass in England betriebliche Mitbestimmung weitgehend fehlt. Insgesamt kennzeichnet es aber die Differenzen zwischen den Systemen des "rheinischen Kapitalismus" und des angloamerikanischen. Interessant war, dass ostdeutsche Manager in einigen Bewertungen den englischen Kollegen näher waren als den westdeutschen, beispielsweise der Aussage "Gewerkschaften sind überflüssig" stimmten sogar mehr ostdeutsche Manager zu als englische und westdeutsche.
Woher kommt das? Liegt es daran, dass unter den ostdeutschen Firmengründern weit mehr Ingenieure als in Westdeutschland sind, wo die Betriebswirte überwiegen? Nein, stellte Katharina Bluhm fest:
"Was aber eine große Rolle spielte, war die Herkunft, das heißt ob man aus Ostdeutschland kam oder aus Westdeutschland. Das ist ein wiederholtes Ergebnis: Wir hatten das sowohl 2002 als auch 2005, dass in der Einschätzung, was man als Unternehmer für Spielräume für Soziales hat, wie man die Verantwortung als Eigentümer betrachtet, wie stark man eben auch Gewerkschaften akzeptiert, wie stark der Staat Einfluss nehmen soll auf den Markt - alle diese Dinge -, dass da ostdeutsche Geschäftsführer und Manager sehr viel stärker die Konkurrenz betont haben, die individuelle Verantwortung, die Fokussierung der eigenen Unternehmensverantwortung, auf Gewinnmachen, dass das Unternehmen gut dasteht, Arbeitsplätze zu sichern - also einen relativen engen Verantwortungsfokus hat..."
...in dem aktive Gewerkschaften selten Platz fanden. Begründet ist das durch die Bedingungen, unter denen ostdeutsche Firmengründer auf den freien Markt kamen. Um bestehen zu können, mussten harte Einschnitte erfolgen: Ausgliederung sozialer Institutionen, massenhafte Entlassungen und niedrige Löhne für die Verbliebenen.
Der Soziologe Christoph Köhler untersucht in seinem Teilprojekt den Wandel in der Beschäftigung. In Bezug auf den ostdeutschen Arbeitsmarkt stellt er fest:
"Diejenigen, die sich nach der Wende neu zusammengefunden haben oder die Restbelegschaften waren und sich gefunden haben, die überlebenden Unternehmen oder neu gegründeten Unternehmen, haben sehr schnell so eine Art Schicksalsgemeinschaft geschlossen, wo die Beschäftigten mit den Arbeitgebern sich zusammenschlossen und um das Überleben kämpfen, und das sind ganz stabile Gruppen geworden. Und auf der anderen Seite haben sie diese Randbelegschaften, oft auch jüngere Personen, die reinkommen, rausgehen; subventionierte Arbeitsverträge, die - wenn die Subventionen auslaufen - wieder rausgehen, so dass man auf der einen Seite eine hohe Flexibilität hat, so im Sinne, wie sich die Arbeitsmarktforscher und Politiker sich das wünschen. Auf der anderen Seite aber auch ein hohes Maß an Stabilität."
Was aber im Osten dazu führte, dass die recht stabilen Schicksalsgemeinschaften Arbeitgeber-Arbeitnehmer der Rente immer näher kommen, während die Zahl der jungen Fachkräfte weiter sinkt. Ursachen sind geburtenschwache Jahrgänge und Abwanderung, was in absehbarer Zeit auch eine Chance für Rückkehrwillige werden kann.
In den Untersuchungen stützten sich Christoph Köhler und Kollegen auf Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, auf deren Basis sie in einer miniaturisierten Bundesrepublik Hunderte Interviews führten. Miniaturisiert heißt: Die Forscher wählten wenige Bundesländer aus, die sowohl die Kriterien Ost-West als auch prosperierend-weniger prosperierend entsprachen: Allein innerhalb von Bundesländern wie Thüringen gibt es enorme Unterschiede, was Beschäftigung, Innovation und Wohlstand anbelangt.
Bereits der Vergleich der Jahre 2002 und 2004 ergab eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, wobei drei Viertel unbefristet waren - in Ost wie West. Stärker stiegen die Zahl der Freien im Westen und die der befristet Eingestellten im Osten. In der noch folgenden wiederholten Befragung dürfte die Flexibilität weiter steigen. "Externalisierung" nennen die Soziologen diesen Prozess, der zwar dazu beigetragen hat, Deutschlands Wirtschaft zu stabilisieren, zugleich aber das Sozialsystem destabilisieren kann.
"Die Krise der Versicherungssysteme wird wahrgenommen. Aber es nicht verbunden mit dem Prozess der Externalisierung, den wir auf der Betriebsebene sehen. Da auf der Betriebsebene - alles was flexibel ist, wird ge-fired; auf der anderen Seite wird die Krise des Versicherungssystems dramatisiert. Dass da aber ein Zusammenhang besteht, also, Flexibilität heißt, dass die Kosten die Gesellschaft trägt. Das wird so nicht thematisiert."
Speziell die ostdeutschen Firmenschefs seien nicht froh über diese Spaltung der Arbeitswelt, hat Katharina Bluhm festgestellt. Sie hörte bei ihren Gesprächspartnern heraus,...
"...dass diese Gesellschaft eben ein Stück weit ungerechter ist. Es wird hingenommen, aber es ist eher Fatalismus, als dass das eine innere Überzeugung wäre: So muss es sein! Es ist nicht das ideale Gesellschaftsmodell, sondern es ist eher so ein komischer Realismus, der sich darin ausdrückt."
Eine Stimmung, die auch bei anderen "erfolgreich Transformierten" angetroffen wurde, zum Beispiel im Forschungsbereich "Führungsgruppen und gesellschaftliche Differenzierungsprozesse in der DDR". Unter vielen anderen wurde eine Medizinerfamilie befragt: Die Eltern praktizierten nach wie vor erfolgreich, die Tochter machte eine steile Karriere und erlangte hohes soziales Ansehen, die Enkelin war gerade im Begriff, ein Medizinstudium aufzunehmen. Und trotzdem war da Wehmut in der Erinnerung der Älteren, DDR-Sozialisierten, an eine sozial heil scheinende Welt:
Wenn ich mal Nachtdienst hatte und mein Mann weg war zum Kongress und ich musste in die Klinik, dann war das gar kein Problem, dann hat meine Nachbarin den Schlüssel gehabt, da standen beide Türen auf und die Kinder liefen hin und her. Also das war wirklich total Klasse.
Die Enkelin konnte diesen Schilderungen kaum noch etwas abgewinnen.
Ähnliches auf anderer Ebene erfuhr der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa.
"Wir haben eine ganz interessante Differenz festgestellt, die bisher in der Literatur auch nicht bekannt ist, dass bei vielen moralischen Fragen oder Gerechtigkeitsfragen, dass es Unterschiede bei Bürgern in Ost- und Westdeutschland gibt. Dass nämlich die Westdeutschen dazu neigen, aus unmittelbaren praktischen Erfahrungskontexten Gerechtigkeitsfragen zum Beispiel anzugehen. Sie identifizieren sich dann auch stärker mit einer spezifischen Position, also: Wir hier im Verein oder wir in Ostwestfalen oder was immer die Referenzgröße sein mag. Und überraschender Weise und auch ein bisschen entgegen dem, was man erwarten würde, hat man festgestellt, dass ostdeutsche Bürger ganz stark dazu neigen, universalistische Kategorien zu wählen, also auf Distanz zu praktischen Kontexten zu gehen. Sie reden davon, dass wir doch alle Menschen seien, die Identifikation mit Mensch-schlechthin, oder mit Frau, also ganz großen sozialen Kategorien scheint da zu dominieren. Das Allgemeinmenschliche spielt dort auch nicht nur in der Redeweise, sondern auch in der Denkweise eine größere Rolle. Wir erklären das damit, dass wir sagen: Ostdeutsche haben praktische Erfahrungen gemacht im Wegbrechen unmittelbarer Referenzgrößen oder unmittelbarer praktischer Handlungskontexte. Sie stehen jetzt neuen Normen, neuen Handlungsweisen gegenüber und gehen da ein bisschen auf Distanz. Wir nennen das die "Distanznahmethese". Sie sind noch nicht bereit und Willens, die neuen Ordnungsmuster zu übernehmen, sie hängen aber auch nicht einfach den alten Ordnungsmustern an, sie weichen deshalb auf abstraktere, universalistischere Betrachtungsweisen aus."
Hartmut Rosa zieht diesen Schluss aus den Untersuchungen im Forschungsbereich "Akteure und Institutionen im sozialen Sektor", wo er "politische Kultur und bürgerliches Engagement" betrachtet hat. Eine doppelte Landkarte entstand: eine territoriale, die ein Nord-Süd-Gefälle im bürgerlichen Engagement aufweist - in den südlichen Bundesländern sind weit mehr Menschen zum Ehrenamt bereit als im Norden, vor allem Nordosten.
Die zweite Landkarte entstand durch ein Spiel:
"Wir bitten unsere Interviewpartner, auf einer Art Spielplan darzulegen, was ihnen wichtig vorkommt. Da gibt es einen Egostein; man platziert sich auf einer Landkarte und setzt sich mit dem in Beziehung zu dem, was einem in der sozialen Welt wichtig erscheint. Und das ist sehr interessant, die Unterschiede zu beobachten: Manche haben nur Elemente aus der Nahbeziehung - also wie Schule, Arbeitsplatz, Familie beispielsweise -, andere platzieren auf diesem Feld politische Institutionen wie Bundesregierung, EU, UNO. Und wie diese Dinge in Beziehung gesetzt werden - Nahbereiche, Fernbereiche, wo der Fokus drauf liegt, wie das Ich dazu in Beziehung gesetzt wird, welche Kenntnisse über die verschiedenen Bereiche bestehen - die erlauben uns, eine Typisierung sozialmoralischer Landkarten vorzunehmen, von der wir uns dann versprechen, auch Differenzen im bürgerschaftlichen Handeln und der politischen Orientierung erklären können."
Anhand dieser sozialmoralischen Landkarte folgerte Hartmut Rosa auch die Unterschiedlichkeit moralischer Prämissen in Ost und West, eben jene Distanznahmethese.
Distanznahme auf anderem Gebiet stellten die Politikwissenschaftler aus Halle fest. Mit Everhard Holtmann stellen sie derzeit den Sprecher des Sonderforschungsbereiches. Die Globalisierung bringt Änderungen mit sich, die den nationalen Rahmen oft weit übersteigen und die Wirkung politischer Entscheidungen marginalisieren können. In der Folge trafen die Elitenforscher auch Politiker an, die sich innerlich von den Zielen ihrer Partei verabschiedet hatten. Sie vollziehen also nach, was viele Wähler bereits getan haben.
Aber da gibt es ja noch die "Nicht-Parteilichen", die Freien Wählergemeinschaften. Sie sind vor allem in Kommunen zu finden, in denen weniger als 2000 Einwohner leben. Das betraf vor allem Bayern und Thüringen, wo die Wählergemeinschaften mehr Stimmen, als CSU beziehungsweise - in Thüringen - CDU und SPD zusammen bekamen. Nordrhein-Westfalen dagegen hat sehr wenige Wählergemeinschaften, was an einstiger Gebietsreform und inzwischen aufgehobener Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Kommunalwahlen liegt. Allen Ländern gemein ist: Die freien Wähler legen zu. Everhard Holtmann sieht deswegen aber nicht das Ende der Parteien kommen:
"Wenn wir eine Konkurrenz von Parteifreien und Parteien gibt, dann stellen wir fest, dass der Anteil von Parteifreien in diesen Fällen deutlich zurück geht. Das heißt, auch aus der Sicht der Wählerinnen und Wähler ist die Stärke von Parteifreien vor Ort häufig so eine Art - ja, zweite Wahl. Also viele derer, die bei kommunalen Wahlen bei Parteifreien ihr Kreuz machen, würden, wenn sie könnten, auch durchaus Parteien wählen."
Eine neuere Tendenz ist, dass sich mehr Gutsituierte und Gebildete in die Kommunalpolitik einbringen. Unter anderem jene, die aus der Stadt aufs Land gezogen sind.
"Die sind es dann nicht selten, die sich auch politisieren lassen. Dann aber gehen sie häufig nicht mehr in Parteien - das setzt ja auch formale Mitgliedschaft voraus. Also diese postmaterialistischen bürgerlichen Aktiven, die ziehen es in aller Regel vor, sich situationsbezogen und fallbezogen zu engagieren, und dann sind offensichtlich diese Parteifreien als ein Gefäß, was diese Aktivitäten auffangen kann, attraktiver als die Ortsparteien. Das ist einer der Hintergründe für unsere Annahme, dass wir einen solchen Typus postmaterialistischer, parteifreier Gruppierungen flächendeckend auffinden könnten."
Auch das Teilprojekt, das der Jenaer Psychologe Rainer Silbereisen leitet, hat mit Engagement zu tun. Allerdings auf anderer Ebene, dem Bewältigen der Ansprüche, die sich aus dem sozialen Wandel für den Einzelnen ergeben. Eine Ausgangsthese lautet: Alles, was vom linear verlaufenden Leben des Individuums abweicht, bringt mehr oder minder Stress.
"Will sagen: Die Menschen nehmen Niederschläge des sozialen Wandels wahr, beispielsweise dass ihr Job weg ist, dass der Job bedroht ist, dass sie sehr rasch viele Änderungen in ihrem Leben erleben, am Arbeitsplatz, in der Familie, im öffentlichen Leben. Und wir interessieren uns insbesondere für solche Herausforderungen, die negativ sind, die ich nicht routinemäßig bewältigen kann, und die eine Art von Akzeleration haben."
Die also den Gang des Lebens von außen beschleunigen und die Menschen im normalen Gang der Dinge ihres Lebens belasten. Wie gehen Menschen mit diesen Anforderungen um? Wie bewältigen sie diese? Und fühlen sie sich dann noch wohl? Wobei das Wohlbefinden die Quintessenz vieler Bewertungen des Arbeits- und Berufslebens, der Familie und Partnerschaft sowie der Freizeit und des öffentlichen Lebens ist.
Die meisten Menschen wollen die Anforderungen bewältigen, wenn auch in unterschiedlichem Maße: Kommt eine Herausforderung auf mich zu, kann ich sie aktiv und zielgerichtet angehen. Stellt sich nicht der gewünschte Erfolg ein, kann ich meine Maßstäbe ändern, kann mir andere Ziele stecken oder auf ein völlig anderes Gebiet meiner Betätigung ausweichen. Gleichwie - ich bin immer aktiv. Ich kann aber auch passiv werden, sagt Rainer Silbereisen, und mich von der Anforderung völlig distanzieren. Das mag für das Wohlbefinden im Moment gut sein, aber:
"Langfristig kann das ein Risiko enthalten, weil - ich könnte ja jetzt auf die Idee kommen, ist ja alles gut, muss ich ja nichts tun. Das heißt, wenn jetzt jemand aus dem - relativ gesehen - weniger beeinträchtigten Wohlbefinden den Schluss zieht, ja, ja, so kann es weitergehen statt diese Reserve, diesen gewonnen Optimismus jetzt einzusetzen, dann wird es problematisch."
Eine andere Erkenntnis ihrer Studien habe sie förmlich "aus den Socken gehauen":
"Wer in einer ökonomisch völlig heruntergekommenen Gegend lebt - oder in einer völlig familienunfreundlichen Gegend -, dann sind die Beziehungen zwischen negativen Belastungen und Wohlbefinden weniger eng. Also: Das gleiche Ausmaß von Belastungen in einem Umfeld, wo es gut geht, zehrt, beißt viel mehr in das Wohlbefinden."
Es wurden Arbeitslose befragt, ob sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden und in den letzten 14 Tagen auch aktiv gesucht hatten. Oder eben nicht. Im Osten gehöre beides - arbeitslos sein und nach Arbeit suchen - weit enger als im Westen zusammen.
"Im Westen können sie diese beiden Gruppen sehr wohl unterscheiden. Und zwar bei denen, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, sind die Belastungen niedriger und die Bewältigung ist eher vom Typ "Aus-dem-Felde-gehen", berührt mich nicht. Und wenn ich dann noch auf depressive Verstimmungen gucke, dann ist im Osten kein Unterschied, und im Westen sehr wohl: Die, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, fühlen sich viel besser. Das sind Arrangements, das sind Erfahrungen im Umgang mit unsicheren Zeiten, und so weiter. Im Osten sind sie da immer noch relative Novizen, darin, wie man ein System nutzt."
Da ein solches Herangehen viel Geld kostet, wären die Forschungen ohne die insgesamt 20 Millionen Euro Fördergelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft schwerlich zustande gekommen. Betroffen sind viele, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen: So beschäftigt sich ein Forschungsbereich mit "Struktur und Handlungsorientierungen von Führungsgruppen" aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Letztere, über 700 Geschäftsführer und Manager klein- und mittelständischer Betriebe in Ost- und Westdeutschland, haben die Soziologin Katharina Bluhm und ihre Jenaer Kollegen nach gesellschaftspolitischen Orientierungen und ihrem Führungsverständnis befragt.
Angelehnt wurde dieses Teilprojekt an eine englische Studie. Es gab deutliche Unterschiede in den Antworten besonders auf soziale Belange. Das mag daran liegen, dass in England betriebliche Mitbestimmung weitgehend fehlt. Insgesamt kennzeichnet es aber die Differenzen zwischen den Systemen des "rheinischen Kapitalismus" und des angloamerikanischen. Interessant war, dass ostdeutsche Manager in einigen Bewertungen den englischen Kollegen näher waren als den westdeutschen, beispielsweise der Aussage "Gewerkschaften sind überflüssig" stimmten sogar mehr ostdeutsche Manager zu als englische und westdeutsche.
Woher kommt das? Liegt es daran, dass unter den ostdeutschen Firmengründern weit mehr Ingenieure als in Westdeutschland sind, wo die Betriebswirte überwiegen? Nein, stellte Katharina Bluhm fest:
"Was aber eine große Rolle spielte, war die Herkunft, das heißt ob man aus Ostdeutschland kam oder aus Westdeutschland. Das ist ein wiederholtes Ergebnis: Wir hatten das sowohl 2002 als auch 2005, dass in der Einschätzung, was man als Unternehmer für Spielräume für Soziales hat, wie man die Verantwortung als Eigentümer betrachtet, wie stark man eben auch Gewerkschaften akzeptiert, wie stark der Staat Einfluss nehmen soll auf den Markt - alle diese Dinge -, dass da ostdeutsche Geschäftsführer und Manager sehr viel stärker die Konkurrenz betont haben, die individuelle Verantwortung, die Fokussierung der eigenen Unternehmensverantwortung, auf Gewinnmachen, dass das Unternehmen gut dasteht, Arbeitsplätze zu sichern - also einen relativen engen Verantwortungsfokus hat..."
...in dem aktive Gewerkschaften selten Platz fanden. Begründet ist das durch die Bedingungen, unter denen ostdeutsche Firmengründer auf den freien Markt kamen. Um bestehen zu können, mussten harte Einschnitte erfolgen: Ausgliederung sozialer Institutionen, massenhafte Entlassungen und niedrige Löhne für die Verbliebenen.
Der Soziologe Christoph Köhler untersucht in seinem Teilprojekt den Wandel in der Beschäftigung. In Bezug auf den ostdeutschen Arbeitsmarkt stellt er fest:
"Diejenigen, die sich nach der Wende neu zusammengefunden haben oder die Restbelegschaften waren und sich gefunden haben, die überlebenden Unternehmen oder neu gegründeten Unternehmen, haben sehr schnell so eine Art Schicksalsgemeinschaft geschlossen, wo die Beschäftigten mit den Arbeitgebern sich zusammenschlossen und um das Überleben kämpfen, und das sind ganz stabile Gruppen geworden. Und auf der anderen Seite haben sie diese Randbelegschaften, oft auch jüngere Personen, die reinkommen, rausgehen; subventionierte Arbeitsverträge, die - wenn die Subventionen auslaufen - wieder rausgehen, so dass man auf der einen Seite eine hohe Flexibilität hat, so im Sinne, wie sich die Arbeitsmarktforscher und Politiker sich das wünschen. Auf der anderen Seite aber auch ein hohes Maß an Stabilität."
Was aber im Osten dazu führte, dass die recht stabilen Schicksalsgemeinschaften Arbeitgeber-Arbeitnehmer der Rente immer näher kommen, während die Zahl der jungen Fachkräfte weiter sinkt. Ursachen sind geburtenschwache Jahrgänge und Abwanderung, was in absehbarer Zeit auch eine Chance für Rückkehrwillige werden kann.
In den Untersuchungen stützten sich Christoph Köhler und Kollegen auf Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, auf deren Basis sie in einer miniaturisierten Bundesrepublik Hunderte Interviews führten. Miniaturisiert heißt: Die Forscher wählten wenige Bundesländer aus, die sowohl die Kriterien Ost-West als auch prosperierend-weniger prosperierend entsprachen: Allein innerhalb von Bundesländern wie Thüringen gibt es enorme Unterschiede, was Beschäftigung, Innovation und Wohlstand anbelangt.
Bereits der Vergleich der Jahre 2002 und 2004 ergab eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, wobei drei Viertel unbefristet waren - in Ost wie West. Stärker stiegen die Zahl der Freien im Westen und die der befristet Eingestellten im Osten. In der noch folgenden wiederholten Befragung dürfte die Flexibilität weiter steigen. "Externalisierung" nennen die Soziologen diesen Prozess, der zwar dazu beigetragen hat, Deutschlands Wirtschaft zu stabilisieren, zugleich aber das Sozialsystem destabilisieren kann.
"Die Krise der Versicherungssysteme wird wahrgenommen. Aber es nicht verbunden mit dem Prozess der Externalisierung, den wir auf der Betriebsebene sehen. Da auf der Betriebsebene - alles was flexibel ist, wird ge-fired; auf der anderen Seite wird die Krise des Versicherungssystems dramatisiert. Dass da aber ein Zusammenhang besteht, also, Flexibilität heißt, dass die Kosten die Gesellschaft trägt. Das wird so nicht thematisiert."
Speziell die ostdeutschen Firmenschefs seien nicht froh über diese Spaltung der Arbeitswelt, hat Katharina Bluhm festgestellt. Sie hörte bei ihren Gesprächspartnern heraus,...
"...dass diese Gesellschaft eben ein Stück weit ungerechter ist. Es wird hingenommen, aber es ist eher Fatalismus, als dass das eine innere Überzeugung wäre: So muss es sein! Es ist nicht das ideale Gesellschaftsmodell, sondern es ist eher so ein komischer Realismus, der sich darin ausdrückt."
Eine Stimmung, die auch bei anderen "erfolgreich Transformierten" angetroffen wurde, zum Beispiel im Forschungsbereich "Führungsgruppen und gesellschaftliche Differenzierungsprozesse in der DDR". Unter vielen anderen wurde eine Medizinerfamilie befragt: Die Eltern praktizierten nach wie vor erfolgreich, die Tochter machte eine steile Karriere und erlangte hohes soziales Ansehen, die Enkelin war gerade im Begriff, ein Medizinstudium aufzunehmen. Und trotzdem war da Wehmut in der Erinnerung der Älteren, DDR-Sozialisierten, an eine sozial heil scheinende Welt:
Wenn ich mal Nachtdienst hatte und mein Mann weg war zum Kongress und ich musste in die Klinik, dann war das gar kein Problem, dann hat meine Nachbarin den Schlüssel gehabt, da standen beide Türen auf und die Kinder liefen hin und her. Also das war wirklich total Klasse.
Die Enkelin konnte diesen Schilderungen kaum noch etwas abgewinnen.
Ähnliches auf anderer Ebene erfuhr der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa.
"Wir haben eine ganz interessante Differenz festgestellt, die bisher in der Literatur auch nicht bekannt ist, dass bei vielen moralischen Fragen oder Gerechtigkeitsfragen, dass es Unterschiede bei Bürgern in Ost- und Westdeutschland gibt. Dass nämlich die Westdeutschen dazu neigen, aus unmittelbaren praktischen Erfahrungskontexten Gerechtigkeitsfragen zum Beispiel anzugehen. Sie identifizieren sich dann auch stärker mit einer spezifischen Position, also: Wir hier im Verein oder wir in Ostwestfalen oder was immer die Referenzgröße sein mag. Und überraschender Weise und auch ein bisschen entgegen dem, was man erwarten würde, hat man festgestellt, dass ostdeutsche Bürger ganz stark dazu neigen, universalistische Kategorien zu wählen, also auf Distanz zu praktischen Kontexten zu gehen. Sie reden davon, dass wir doch alle Menschen seien, die Identifikation mit Mensch-schlechthin, oder mit Frau, also ganz großen sozialen Kategorien scheint da zu dominieren. Das Allgemeinmenschliche spielt dort auch nicht nur in der Redeweise, sondern auch in der Denkweise eine größere Rolle. Wir erklären das damit, dass wir sagen: Ostdeutsche haben praktische Erfahrungen gemacht im Wegbrechen unmittelbarer Referenzgrößen oder unmittelbarer praktischer Handlungskontexte. Sie stehen jetzt neuen Normen, neuen Handlungsweisen gegenüber und gehen da ein bisschen auf Distanz. Wir nennen das die "Distanznahmethese". Sie sind noch nicht bereit und Willens, die neuen Ordnungsmuster zu übernehmen, sie hängen aber auch nicht einfach den alten Ordnungsmustern an, sie weichen deshalb auf abstraktere, universalistischere Betrachtungsweisen aus."
Hartmut Rosa zieht diesen Schluss aus den Untersuchungen im Forschungsbereich "Akteure und Institutionen im sozialen Sektor", wo er "politische Kultur und bürgerliches Engagement" betrachtet hat. Eine doppelte Landkarte entstand: eine territoriale, die ein Nord-Süd-Gefälle im bürgerlichen Engagement aufweist - in den südlichen Bundesländern sind weit mehr Menschen zum Ehrenamt bereit als im Norden, vor allem Nordosten.
Die zweite Landkarte entstand durch ein Spiel:
"Wir bitten unsere Interviewpartner, auf einer Art Spielplan darzulegen, was ihnen wichtig vorkommt. Da gibt es einen Egostein; man platziert sich auf einer Landkarte und setzt sich mit dem in Beziehung zu dem, was einem in der sozialen Welt wichtig erscheint. Und das ist sehr interessant, die Unterschiede zu beobachten: Manche haben nur Elemente aus der Nahbeziehung - also wie Schule, Arbeitsplatz, Familie beispielsweise -, andere platzieren auf diesem Feld politische Institutionen wie Bundesregierung, EU, UNO. Und wie diese Dinge in Beziehung gesetzt werden - Nahbereiche, Fernbereiche, wo der Fokus drauf liegt, wie das Ich dazu in Beziehung gesetzt wird, welche Kenntnisse über die verschiedenen Bereiche bestehen - die erlauben uns, eine Typisierung sozialmoralischer Landkarten vorzunehmen, von der wir uns dann versprechen, auch Differenzen im bürgerschaftlichen Handeln und der politischen Orientierung erklären können."
Anhand dieser sozialmoralischen Landkarte folgerte Hartmut Rosa auch die Unterschiedlichkeit moralischer Prämissen in Ost und West, eben jene Distanznahmethese.
Distanznahme auf anderem Gebiet stellten die Politikwissenschaftler aus Halle fest. Mit Everhard Holtmann stellen sie derzeit den Sprecher des Sonderforschungsbereiches. Die Globalisierung bringt Änderungen mit sich, die den nationalen Rahmen oft weit übersteigen und die Wirkung politischer Entscheidungen marginalisieren können. In der Folge trafen die Elitenforscher auch Politiker an, die sich innerlich von den Zielen ihrer Partei verabschiedet hatten. Sie vollziehen also nach, was viele Wähler bereits getan haben.
Aber da gibt es ja noch die "Nicht-Parteilichen", die Freien Wählergemeinschaften. Sie sind vor allem in Kommunen zu finden, in denen weniger als 2000 Einwohner leben. Das betraf vor allem Bayern und Thüringen, wo die Wählergemeinschaften mehr Stimmen, als CSU beziehungsweise - in Thüringen - CDU und SPD zusammen bekamen. Nordrhein-Westfalen dagegen hat sehr wenige Wählergemeinschaften, was an einstiger Gebietsreform und inzwischen aufgehobener Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Kommunalwahlen liegt. Allen Ländern gemein ist: Die freien Wähler legen zu. Everhard Holtmann sieht deswegen aber nicht das Ende der Parteien kommen:
"Wenn wir eine Konkurrenz von Parteifreien und Parteien gibt, dann stellen wir fest, dass der Anteil von Parteifreien in diesen Fällen deutlich zurück geht. Das heißt, auch aus der Sicht der Wählerinnen und Wähler ist die Stärke von Parteifreien vor Ort häufig so eine Art - ja, zweite Wahl. Also viele derer, die bei kommunalen Wahlen bei Parteifreien ihr Kreuz machen, würden, wenn sie könnten, auch durchaus Parteien wählen."
Eine neuere Tendenz ist, dass sich mehr Gutsituierte und Gebildete in die Kommunalpolitik einbringen. Unter anderem jene, die aus der Stadt aufs Land gezogen sind.
"Die sind es dann nicht selten, die sich auch politisieren lassen. Dann aber gehen sie häufig nicht mehr in Parteien - das setzt ja auch formale Mitgliedschaft voraus. Also diese postmaterialistischen bürgerlichen Aktiven, die ziehen es in aller Regel vor, sich situationsbezogen und fallbezogen zu engagieren, und dann sind offensichtlich diese Parteifreien als ein Gefäß, was diese Aktivitäten auffangen kann, attraktiver als die Ortsparteien. Das ist einer der Hintergründe für unsere Annahme, dass wir einen solchen Typus postmaterialistischer, parteifreier Gruppierungen flächendeckend auffinden könnten."
Auch das Teilprojekt, das der Jenaer Psychologe Rainer Silbereisen leitet, hat mit Engagement zu tun. Allerdings auf anderer Ebene, dem Bewältigen der Ansprüche, die sich aus dem sozialen Wandel für den Einzelnen ergeben. Eine Ausgangsthese lautet: Alles, was vom linear verlaufenden Leben des Individuums abweicht, bringt mehr oder minder Stress.
"Will sagen: Die Menschen nehmen Niederschläge des sozialen Wandels wahr, beispielsweise dass ihr Job weg ist, dass der Job bedroht ist, dass sie sehr rasch viele Änderungen in ihrem Leben erleben, am Arbeitsplatz, in der Familie, im öffentlichen Leben. Und wir interessieren uns insbesondere für solche Herausforderungen, die negativ sind, die ich nicht routinemäßig bewältigen kann, und die eine Art von Akzeleration haben."
Die also den Gang des Lebens von außen beschleunigen und die Menschen im normalen Gang der Dinge ihres Lebens belasten. Wie gehen Menschen mit diesen Anforderungen um? Wie bewältigen sie diese? Und fühlen sie sich dann noch wohl? Wobei das Wohlbefinden die Quintessenz vieler Bewertungen des Arbeits- und Berufslebens, der Familie und Partnerschaft sowie der Freizeit und des öffentlichen Lebens ist.
Die meisten Menschen wollen die Anforderungen bewältigen, wenn auch in unterschiedlichem Maße: Kommt eine Herausforderung auf mich zu, kann ich sie aktiv und zielgerichtet angehen. Stellt sich nicht der gewünschte Erfolg ein, kann ich meine Maßstäbe ändern, kann mir andere Ziele stecken oder auf ein völlig anderes Gebiet meiner Betätigung ausweichen. Gleichwie - ich bin immer aktiv. Ich kann aber auch passiv werden, sagt Rainer Silbereisen, und mich von der Anforderung völlig distanzieren. Das mag für das Wohlbefinden im Moment gut sein, aber:
"Langfristig kann das ein Risiko enthalten, weil - ich könnte ja jetzt auf die Idee kommen, ist ja alles gut, muss ich ja nichts tun. Das heißt, wenn jetzt jemand aus dem - relativ gesehen - weniger beeinträchtigten Wohlbefinden den Schluss zieht, ja, ja, so kann es weitergehen statt diese Reserve, diesen gewonnen Optimismus jetzt einzusetzen, dann wird es problematisch."
Eine andere Erkenntnis ihrer Studien habe sie förmlich "aus den Socken gehauen":
"Wer in einer ökonomisch völlig heruntergekommenen Gegend lebt - oder in einer völlig familienunfreundlichen Gegend -, dann sind die Beziehungen zwischen negativen Belastungen und Wohlbefinden weniger eng. Also: Das gleiche Ausmaß von Belastungen in einem Umfeld, wo es gut geht, zehrt, beißt viel mehr in das Wohlbefinden."
Es wurden Arbeitslose befragt, ob sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden und in den letzten 14 Tagen auch aktiv gesucht hatten. Oder eben nicht. Im Osten gehöre beides - arbeitslos sein und nach Arbeit suchen - weit enger als im Westen zusammen.
"Im Westen können sie diese beiden Gruppen sehr wohl unterscheiden. Und zwar bei denen, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, sind die Belastungen niedriger und die Bewältigung ist eher vom Typ "Aus-dem-Felde-gehen", berührt mich nicht. Und wenn ich dann noch auf depressive Verstimmungen gucke, dann ist im Osten kein Unterschied, und im Westen sehr wohl: Die, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, fühlen sich viel besser. Das sind Arrangements, das sind Erfahrungen im Umgang mit unsicheren Zeiten, und so weiter. Im Osten sind sie da immer noch relative Novizen, darin, wie man ein System nutzt."