Mittwoch, 24. April 2024

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Ostdeutschland
"Wir aus dem Osten sind fast rassistisch benachteiligt"

Christiane Thiel, Hochschulseelsorgerin aus Halle, erklärt ostdeutsche Verwundungen, Ängste und Stärken. "Wir Ostdeutschen trauen keinem Staat mehr", sagt sie. Noch sei das West-Ost-Verhältnis vom Machtgefälle bestimmt, auch in den Kirchen. Aber gerade der Machtverlust sei eine große Chance.

Christiane Thiel im Gespräch mit Christiane Florin | 27.12.2018
    Frau sitzt im Magdeburger Dom inmitten leerer Stuhlreihen und betet.
    Beten in der Kirche (imago )
    Christiane Florin: "Bitte hört auf, die Ostdeutschen wieder als Objekte eines Gesprächs wahrzunehmen, als Zielgruppe einer Pädagogisierung. Da steckt eine Bevormundung drin, von der nicht wenige Ostdeutsche der Meinung sind, dass darin dieses Missverhältnis von Macht zum Ausdruck kommt, das es zwischen Ost- und Westdeutschen seit der Wiedervereinigung gibt." Das sagte Philipp Greifenstein aus Eisleben, Verfasser eines Bloggs mit dem Namen "Unter Heiden", vor einigen Monaten in dieser Sendung zum Ost-West-Verhältnis. Pädagogisierung, Bevormundung, Machtmissverhältnis sind Schlüsselbegriffe. Für einen Rück- und Ausblick zum Ost-West-Verhältnis habe ich mich mit Christiane Thiel verabredet. Sie ist Hochschulseelsorgerin in Halle, war lange Pfarrerin in Leipzig und ist in Freiberg in Sachsen geboren.
    Der Kontakt zwischen uns entstand über ein ganz anderes Thema, nämlich die Ökumene, dann aber stellten wir in Telefonaten fest, dass ein Gespräch zwischen ihr (Ost) und mir (West) über Machtverhältnisse, Verwundungen und Verwunderungen ganz spannungsreich sein könnte. Wir haben das Gespräch vor der Sendung aufgezeichnet und ich wollte von Christiane Thiel zuerst wissen, ob es so etwas wie die ostdeutsche Seele überhaupt gibt.
    Christiane Thiel: Auf jeden Fall gibt es eine ostdeutsche Seele.
    Florin: Was ist das spezifisch Ostdeutsche daran?
    Thiel: Das kommt ein bisschen auf das Alter an von den Menschen, von denen wir sprechen. Also, wenn die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts geboren sind, dann haben sie schon auch noch allerhand bewusste Erfahrungen in der DDR sammeln können. Das hat sie auch geprägt. Und die letzten 30 Jahre. Das ist ja jetzt auch schon eine lange Zeit hier im vereinigten Deutschland, speziell in Ostdeutschland. Das prägt auch.
    Florin: Nun gab es Prognosen zu jedem Jubiläumstag der Einheit, der Wende, der friedlichen Revolution - ist ja auch schon eine Frage, wie man es nennt. Diese Prognose lautete immer: Na ja, wenn da erst mal eine Generation vergangen ist, 25, 30 Jahre vergangen sind, dann wird das schon zusammenwachsen. Jetzt stellen wir fest: Wir reden immer noch von Westdeutschen, von Ostdeutschen und vor allem von dem, was die unterscheidet. Wie erleben Sie das?
    "Ich habe an eine Veränderbarkeit des Sozialismus geglaubt"
    Thiel: Ich habe das die ganze Zeit nicht geglaubt, dass das zusammenwachsen wird, aus meiner Perspektive. Ich bin 1968 geboren. Ich gehörte ja auch gar nicht zu denen, die also für eine Wiedervereinigung 1989 auf die Straße gegangen sind. Ich habe ja doch an eine Veränderbarkeit des Sozialismus geglaubt. Und mich hat das Ende dieser Idee auch sehr bekümmert. Und jetzt merke ich, dass doch 30 Jahre Verletzungen, Kränkungen, Rassismus würde ich es schon fast nennen, zu einer verstärkten Nachfrage nach ostdeutscher Identität geführt hat. Und so erkläre ich mir das. Es hat vor allen Dingen seine Gründe in den vergangenen 30 Jahren seit 1989.
    Florin: Sie haben jetzt die ostdeutsche Identität negativ beschrieben, also mit Rassismus zum Beispiel. Wenn Sie es mal positiv beschreiben sollten, was macht die aus?
    Thiel: Na, ich meine ja nicht, dass die Ossis rassistisch sind. So wirken sie oft. Also, wir sind fast rassistisch benachteiligt. Das merkt man daran, dass wir einfach keine Leitungspositionen mehr bekommen. Jana Hensel sagt ja immer: Die Eliten sind ausgetauscht worden. Das merken wir gerade in der evangelischen Kirche bei jeder Bischofswahl, bei jeder Bischöfinnenwahl. Es gibt gar keine ostdeutschen Kandidaten und Kandidatinnen, auch jetzt in Berlin nicht. Also, ich finde es eine Katastrophe.
    "Wir trauen keinem Staat mehr, das ist etwas Positives"
    Florin: Und das macht auch die Pfarrerstochter, die Bundeskanzlerin wurde, aus der Uckermark nicht wett?
    Thiel: Ach, das … nein, wirklich. Also, Angela Merkel hat für diese ganzen Fragen keine Relevanz. Also, ich weiß auch nicht, warum immer danach gefragt wird, also, und warum immer ihre Herkunft betont wird. Vielleicht, weil sie …
    Florin: Weil wir gerade über Herkunft sprechen.
    Thiel: Ja, na klar, bloß ich finde, sie repräsentiert für einige eine Art protestantisches Ideal. Also, ich stelle mein Leben ganz in den Dienst einer bestimmten Aufgabe. Und das ist ja nun egal, ob man da aus Ost oder West kommt. Diese protestantische Idee haben viele Pfarrerskinder, diese Bereitschaft, auch das Eigene hinter eine große Sache zurückzustellen. Aber Sie wollten ja wissen, ob ich das irgendwie positiv beschreiben kann – ostdeutsche Identität. Ich würde sagen: Ja, man kann sie positiv beschreiben, und zwar ist der absolute Schatz, den wir haben, ist, dass wir also Systembrüche überstanden haben. Das heißt, wir trauen keinem Staat mehr. Das, finde ich, ist schon was Positives. Wir wissen, dass Staaten kommen und gehen, und dass wir das auch irgendwie gestalten können oder überleben oder auch ins Gute wenden können. Und ich glaube, dass die, die in den 70er Jahren noch geboren worden sind, das positive Menschenbild des Sozialismus, das wir in den Schulen gelernt haben, das ist ein Schatz. Also, ich schöpfe daraus.
    Florin: Das positive Menschenbild des Sozialismus?
    Thiel: Ja, dass der Mensch gut ist. Wir haben gelernt, der Mensch ist von sich aus gut und er wird durch die Umstände schlecht.
    Florin: Aber das war offenbar nur um den Preis einer Diktatur zu haben, weil die Menschen doch nicht von sich aus daran geglaubt haben erst mal, dass der Sozialismus gut ist, und dass dem ein gutes Menschenbild zugrunde liegt. Es war ja nur mit Zwang möglich. Frei gewählt haben Sie ja nicht.
    Thiel: Na ja, das ist mir jetzt zu negativ. Also, ich würde die DDR nicht als reine Diktatur beschreiben, genauso wenig wie als Unrechtsstaat. Da bin ich ganz bei Wolfgang Engler übrigens, bei dem man sich da sehr gut belesen kann.
    Florin: Aber freie Wahlen gab es nicht. Das ist nun mal das Kennzeichen einer Demokratie, dass man auswählen kann, dass Parteien konkurrieren, und dass die Wahlen frei, gleich und geheim sind.
    Thiel: Ja, ich finde aber, das ist eine sehr komplizierte Frage. Also, jetzt haben wir angeblich freie Wahlen, aber wir wählen Parteien, die dann unsere Repräsentanten und Repräsentantinnen sind. Das sind Menschen, die zwar stimmlich oder zahlenmäßig eine Mehrheit repräsentieren, aber auf keinen Fall eine Bevölkerung abbilden. Die Parteien haben weniger Mitglieder als die Kirchen und haben dann die Macht. Das ist eine riesige Frage. Ich möchte nicht, dass die Kirchen die Macht übernehmen, auf keinen Fall. Aber es ist auch keine wirkliche repräsentative Demokratie.
    "Ich bin zum Ungehorsam erzogen worden"
    Florin: Haben Sie als Christin, als evangelische Christin in der DDR gelitten? Wurden Sie diskriminiert?
    Thiel: Also, ich bin als bekennende Christin aufgewachsen und ich kann Ihnen da viele Geschichten erzählen, wie das war als einzige Christin unter 90 Kindern, die in die erste Klasse kamen und in die vierte Klasse usw. Ich bin schon öfter vorgeführt worden, aber ich habe das nicht als Diskriminierung erlebt. Ich habe das als Glaubensfragen wahrgenommen. Ich bin in meiner Entwicklung, also zur Abiturientin etwa, nicht behindert worden. Ich hatte sehr gute Lehrer und Lehrerinnen, echt beeindruckende – vor allen Dingen die überzeugten Kommunisten.
    "Ostdeutsche Seele" - Seelsorgerin Christiane Thiel
    "Ostdeutsche Seele" - Seelsorgerin Christiane Thiel (Christiane Thiel)
    Florin: Wenn Sie selber auch an den Sozialismus geglaubt haben, haben Sie das auch gezeigt oder waren Sie eher widerständig in der DDR?
    Thiel: Also, meine Eltern sind ja ein naturwissenschaftliches Haus und da Christen und Christin zu sein, das war nicht ganz einfach. Ich habe auch die Jugendweihe abgelehnt und bin nur konfirmiert worden. Natürlich hieß es da immer: Das könnte dann sein, dass du kein Abitur machen kannst, oder dass die Eltern irgendwelche Nachteile bekommen. Meine Eltern haben mich da aber unterstützt und haben gesagt: Wenn du das für deinen Glauben machst, dann wird sich ein Weg ebnen. Also, das war auch eine Frage des Gottvertrauens. Wir haben auch keine Angst vor der Stasi gehabt, obwohl wir wussten, dass wir bespitzelt werden. Ja, ich bin zum Ungehorsam erzogen worden. Das liegt vielleicht auch an den 80er Jahren. Ich habe eben in den 80er Jahren Abitur gemacht. Die DDR war nicht mehr so restriktiv. Da sind meine Brüder schon als junge Männer in den Westen gefahren.
    Florin: Und, wenn Sie vergleichen: Christin sein in der DDR und Christin sein heute, was fällt Ihnen da als Erstes auf?
    Thiel: Na, dass die Kirche sich in eine konservative Richtung zurückentwickelt hat, die mich schockiert, die mir auch fremd ist.
    Florin: Welche Kirche? Die mitteldeutsche Landeskirche, die sächsische Landeskirche?
    "Ich bin gerne links-grün versifft"
    Thiel: Na, die ostdeutschen Kirchen. Der Bund der Evangelischen Kirche in der DDR, die hatten sich ja in einer Weise also als Kirche im Sozialismus gefasst, die hat mich sehr beeindruckt und hat vor allen Dingen, was den Militarismus anging, ein klares Votum abgegeben, dass die Verweigerung des Dienstes an der Waffe die Nachfolge im Evangelium ist. Ganz klar getragen und gestützt wurde eben von Kirche und Gemeinde, eine Kirche mit Umweltbewusstsein, mit Friedensbotschaft, so 80er Jahre DDR-Kirche, ökologisch engagiert. Und da bin ich auch geprägt. Und die Kirche hat eine Rechtswende vollzogen und ist jetzt wieder ein Hort der konservativen Moralvorstellungen geworden. Das hätte ich alles nicht erwartet.
    Florin: Sie waren engagiert oder sind noch engagiert für die Themen Umwelt, Frieden, Frauen. Thiel: Ja, genau.
    Florin: Sie haben es genannt.
    Thiel: Ja, ja.
    Florin: Wurden Sie schon mal als „links-grün-versifft“ beschimpft?
    Thiel: Ja, ja, werde ich. Aber das habe ich auch gerne übernommen. Ich bin gerne „links-grün-versifft“.
    Florin: Wir haben in diesem Jahr in dieser Sendung, in „Tag für Tag“, häufiger gefragt: Was überhören wir Journalisten im Osten? Wen überhören wir? Was ist Ihre Antwort?
    Thiel: Die Frage ist schon mal schwierig, weil das so ein bisschen ist, als wären wir im Zoo oder kleine Kinder.
    Florin: Die Frage kam von Hörerinnen und Hörern.
    "Wir sind ausgeraubt worden"
    Thiel: Ich denke immer, das ist so, wie bei der Klimakonferenz. Da treten die Menschen aus Tuvalu auf und sagen: „Unsere Inseln ersaufen und ihr fliegt in den Urlaub nach Malle.“ Und so ist das, wenn wir hier im Osten sagen, wir sind ausgeraubt worden nach 1989. Die Arbeitsbiografien sind zerstört worden und jetzt sind wir nur noch Wolferwartungsländer. Das klingt so jammerig und so vorwurfsvoll. Das wird nicht gehört. Und das ist vielleicht auch so. Es ist vielleicht normal auch in historischen Prozessen, dass bestimmte Regionen eben sich benachteiligt fühlen oder auch benachteiligt werden. Und das lässt sich einfach nicht ändern. Also, ich möchte da nicht so in so eine Polemik verfallen. Ich glaube einfach, es gibt solche historischen Phasen und ich bedaure das natürlich.
    Besonders bedaure ich, dass es keine meinungsbildenden Personen mehr mit ostdeutscher Biografie gib, die aus diesem Zusammenhang erzählen. Gerade in der Kirche fällt mir das immer auf, dass ich denke, wenn ich also Funktionärin werde, also irgendwie aufsteige in der Hierarchie, dann ist das ein Unterschied, ob ich das mache mit der permanenten Erfahrung in der Minderheit zu sein und in der Kirche – jetzt sage ich noch mal deutlich – in der DDR auch in der Minderheit stark zu sein, oder ob ich das mit dem Hintergrund volkskirchlicher Dominanz mache. Ich bin zum Beispiel immer minderheitsgeprägt. Das hat was mit mir gemacht. Ich habe noch nie eine Wahl gewonnen. Das wird mir auch nicht passieren, ja. Ich nehme es da mit Mark Twain: „Wo die Mehrheit ist, da werde misstrauisch, dann wechsele die Seite.“ Aber ich glaube, das macht viel aus. Und ich glaube, gerade Kirche ist unbedingt gerufen, in die Ohnmacht zu gehen. Wir hier im Osten wir müssen in die zurückkehren. Wir haben ja hier auch viel an Image verloren durch unsren Machtgewinn seit 1989. Das hat uns sehr beschädigt.
    "Die wahre Form von Kirche ist die Minderheit"
    Florin: Auch in den westlichen Bundesländern wird über das Ende der Volkskirche diskutiert. Manche sagen und schreiben auch, die Volkskirche ist schon zu Ende, selbst in Erzbistümern wie Köln oder München. Stark katholisch geprägt. Da müssten sich doch eigentlich schon alleine darüber Ost- und Westkirche einander annähern.
    Thiel: Ich glaube, dass die Ergebenheit sich unterscheidet. Zum Beispiel im Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland sitzt keine einzige Ostperson mehr drin, da gibt es ein Festhalten an großen, dichten Strukturen, an machtvoller Institutionen. Und ich würde sagen, dass meine Prägung und auch meine Kollegen und Kolleginnen, dass wir mit mehr Ergebenheit in dieser Minderheit leben und agieren. Wir sind auch müder wahrscheinlich. Ich habe jetzt immer gesagt, wenn es um die Kandidaten und Kandidatinnen für die Ämter ging: Man kann sich im Osten nicht für solche Ämter qualifizieren, weil wir keine Sonderpfarrstellen mehr haben. Und wir haben auch keinen ostdeutschen Wort-zum-Sonntag-Sprecher/Wort-zum-Sonntag-Sprecherin. Also, wir sind da aus allem auch raus. Die Räume fehlen auch, weil wir alle so viel arbeiten – sage ich jetzt mal. Also, wir haben ja riesige Territorien. Und ich, also ich als Christiane Thiel, ich sage: Wir müssen das Ende der Volkskirche begrüßen. Die wahre Form von Kirche ist die Kleinheit, ist die Minderheit – die Minderbrüder und die Minderschwestern. Und da steckt eine große Chance drin – im Machtverlust.
    Florin: Aber es bedeutet doch auch weniger Vielfalt, weniger Pluralismus. Sie haben es vorhin für die Kirchen in Ostdeutschland beschrieben. Übrig bleiben doch eher – ich sage es mal so zugespitzt – die Strammen …
    Thiel: Ja, das sehen Sie richtig.
    Florin: … die genau wissen, wo es langgeht, die genau wissen, was richtig und falsch ist. Für Ihre Farbe – bisschen Umwelt, bisschen Frauen, bisschen Frieden – ist da kein Platz mehr.
    Thiel: Ja, ich weiß.
    Florin: Also, es ist doch eine Verengung.
    Ist die Volkskirche des Westens liberaler?
    Thiel: Also, das sehe ich auch kritisch. Ich glaube, das sind gruppendynamische Prozesse oftmals, dass eben, wenn Gruppen sich verkleinern, sie sich so radikalisieren. Das beobachte ich auch und mit Schrecken. Ich sage immer, ich kämpfe für – also – farbenfrohe kleine Gruppen. Ist ja auch sehr anstrengend, aber Sie haben natürlich recht, ja. Ich weiß aber nicht genau – das muss ich ehrlich sagen –, ob die Volkskirche des Westens wirklich liberaler ist. Also, ich nehme mal das Beispiel Bausoldaten.
    Florin: Das müssen Sie erklären, was Bausoldaten sind.
    Thiel: Ja, ist mir klar. Also, es gab in den 80er Jahren im Bund der Evangelischen Kirchen einen Beschluss im Rahmen der atomaren Aufrüstung und in der Hochphase des Kalten Krieges und im Zuge des konziliaren Prozesses. Ja? Also, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Da haben sich die ostdeutschen evangelischen Kirchen vom Militarismus in jeder Form verabschiedet. Sie haben gesagt, die Verweigerung der Waffe ist die wahre Nachfolge Christi. Das hieß praktisch für die jungen Christen – hier sind es nur die Männer gewesen –, wenn sie es ernst meinen mit ihrem Glauben, dann müssen sie Bausoldaten werden. Das heißt also, die 19 Monate oder 18 Monate Armee in sogenannten Bausoldaten-Kompanien – ohne Waffe. Es gab auch ein paar, die haben radikal verweigert. Es waren aber eher die Zeugen Jehovas – vor denen ich dafür übrigens den Hut ziehe. Aber das war immerhin was, denn wer Bausoldat wurde, war klar, kannst du nicht studieren. Abitur geht noch, aber dann studieren ist vorbei. Und es gab viele, die das gemacht haben, die sich da getraut haben. Und ich denke immer, das war zum Beispiel, obwohl die Kirche ganz klein war, so ein mutiger Schritt. Rückgängig gemacht 1990 auf Drängen und Treiben der westdeutschen Kirchen und unter Widerstand auch einiger Bischöfe, die selber Bausoldaten waren, die dann eingeknickt sind. Ich sehe da – jedenfalls in den 80ern im Osten – eine liberalere Kirche als die westdeutsche Kirche, die uns seit 1990 dominiert.
    Florin: Sie waren 20 Jahre lang Pfarrerin in der sächsischen Landeskirche, unter anderem in Leipzig.
    Thiel: Ja.
    Florin: Welche Veränderungen haben Sie speziell in Sachsen in dieser Zeit erlebt? Einen Klimawandel sozusagen?
    Dämonisierung der weiblichen Sexualität
    Thiel: Na ja, es gibt ja den echten Klimawandel. Den erleben wir jetzt auch. Aber da sage ich lieber Klimakatastrophe dazu. Na, in der sächsischen Landeskirche hat die konservative Prägung einfach an Kraft gewonnen. Sachsen ist schon immer eine fromme Ecke gewesen. Das hat was mit dem Pietismus zu tun. Es gab ja in Deutschland so eine pietistische Achse, die über Württemberg nach Sachsen reicht. Die berühmten Herrnhuter Sterne kommen aus dem Pietismus, nämlich von den Herrnhuter Brüdern. Das ist ja eigentlich auch eine tolle Bewegung gewesen, eine Emanzipationsbewegung hin zum Laienchristentum. Das kann man eigentlich nur begrüßen. Dieser Pietismus hat Sachsen sehr geprägt und ist auch die ganze DDR-Zeit hindurch kräftig und stark gewesen – vor allen Dingen im Erzgebirge. Es gab aber immer die großen Gegenpole, Dresden und Leipzig. Und, ja, jetzt haben wir eben so seit 15 Jahren … das liegt an den Strukturreformen. Seitdem ich Pfarrerin bin, sparen wir Personal und sparen wir Personal. Wir werden immer weniger, und weniger, und weniger. Das ist auch für die Seele eine anstrengende Aufgabe. Ich glaube, dass im Zuge dieser Schrumpfungsprozesse das konservative Milieu Aufschwung genommen hat.
    Florin: Aber was ist so schlimm an dem Konservativen? „Prüfet und das Gute behaltet.“
    Thiel: Genau.
    Florin: Ist eigentlich konservativ.
    Thiel: Ja, genau.
    Florin: Was ist für Sie daran kritikwürdig?
    Thiel: Ja, kritisch sehe ich die Dämonisierung der Sexualität, besonders der weiblichen Sexualität. Das ist ein Effekt. Also, deutet sich vor allen Dingen in der Scheinmoral „wahre Liebe wartet“ an. Das gilt ja immer nur für die Frauen. Die haben gefälligst jungfräulich in die Ehe zu gehen.
    Florin: Aber das ist doch nur eine kleine Bewegung, ist doch nicht wirklich einflussreich.
    Thiel: Doch, ist einflussreich – gerade in der Jugendarbeit. „Wahre Liebe wartet“, das ist … also, das hat viel Dynamik in der Jugendarbeit. Und dann ist natürlich das Homophobe, vor allen Dingen gegen männliche Sexualität, das kommt ja nun auch im Rest des Landes an, dass sich da Sachsen sehr schwertut. Was ich auch kritisch sehe, ist zum Beispiel die Angst vor Vielfalt, also die sich abbildet etwa in der Vielfalt von Religionen, in der Vielfalt von kulturellen Prägungen. Und das sehe ich kritisch, dass man davor Angst hat. Ich glaube ja, dass die Schöpfung sehr vielfältig ist. Ich sehe es jeden Tag. Also, warum gibt es unterschiedliche Schmetterlinge, ganz viele, zig Insektenarten, wenn eine reichen würde? Ja? Und ich glaube, das Wesen der Schöpfung ist Vielfalt. Und deshalb bin ich da immer sehr traurig über diese Verengung. Es geht um auch kulturelle Hegemonie. Und das sehe ich kritisch, ja.
    "Jeder junge Mann ist ein Konkurrent auf dem sexuellen Markt"
    Florin: Ich zitiere aus der Statistik des sächsischen Ausländerbeauftragten – so heißt dieses Amt: „Ende 2016 lebten im Freistaat Sachsen 171.631 Ausländer. Das waren 4,2 Prozent der 4,08 Millionen Einwohner in Sachsen. Der Ausländeranteil in Sachsen ist damit im Vergleich zum Bundesdurchschnitt von 11,2 Prozent sehr gering." Die größte Gruppe dieser Ausländer sind Syrer, gefolgt von Polen und Russen. Wie kommt es, dass der Islam, der muslimische Mann, als Feindbild taugt? Angesichts dieser Zahlen.
    Thiel: Also, die Mitscherlichs, die über diese Unfähigkeit zu trauern geschrieben haben, die haben ja auch gesagt zum Thema Antisemitismus im Deutschen, dass es sexueller Neid ist. Ich glaube, dass die Sexualität eine riesige Rolle spielt. Nach 1989 sind aus dem Osten vor allem die jungen Frauen abgewandert. Und es ist jeder junge Mann ein Konkurrent auf dem sexuellen Markt. Ganz archaisch.
    Florin: Das ist nicht die Erklärung, die man von einer evangelischen Pfarrerin erwartet.
    Thiel: Das kann sein, aber das ist meine Erklärung. Ich glaube, dass es eine riesige Rolle spielt. Deshalb habe ich das vorhin auch markiert, das Thema weibliche Sexualität. Das ist ein ganz großer Schwachpunkt der christlichen Theologie, dass sie die Frauen so dämonisiert. Deshalb reißt der Glauben auch ab. Ich sage jetzt immer zu meinen Studentinnen: Der Glauben reißt an den Lippen der Frauen ab. Die lassen sich einfach nicht mehr bevormunden. Sie emanzipieren sich und sie emanzipieren sich auch von der Kirche. Und das unterstütze ich. Ja? Also, Emanzipation von Frauen, das hat meine Unterstützung. Ich finde das ganz wichtig. Und ich glaube, da spielt Sexualität immer eine Rolle, auch in dem antiemanzipatorischen Impuls zum Beispiel unter vielen Männern spielt Sexualität eine Rolle. Die Frauen sind nicht mehr verfügbar. Sie sagen, ein Nein ist ein Nein. Ja, wo kommen wir denn da hin? Aber, ja, so muss es sein. Und ich glaube wirklich, die jungen Kerle, potent, attraktiv, fit, noch nicht so fett, die regen die Männer auf.
    "Heimatlicher als ins Sachsen kann es nicht sein"
    Florin: Kann es nicht auch sein, dass es etwas mit Entheimatung zu tun hat, mit dem Gefühl, die Heimat nicht mehr wiederzuerkennen – bei denen, die auf das Feindbild Islam setzen?
    Thiel: Ach, doch nicht in Sachsen. Wenn Sie jetzt … Sie haben es doch gerade vorgelesen. 4 Prozent. Wenn Sie jetzt durch Sachsen fahren …
    Florin: Es muss ja nicht rational begründbar sein.
    Thiel: Ja, eben.
    Florin: Eine Angst ist nicht immer rational begründbar.
    "Weniger Gehalt, mehr Pfarrstellen"
    Thiel: Ja, und ich glaube auch … also, Entheimatung, wenn Sie jetzt durch Sachsen fahren, überall sind Lämpchen an und es weihnachtet sehr. Also, es ist wirklich heimatlich – heimatlicher kann es nicht sein. Also, da war die DDR heimatloser. Wirklich. Also, es gab ja nicht halb so viele Herrnhuter Sterne vor Häusern hängen wie jetzt. Also, das ist mir ein Rätsel. Das kann es nicht sein. Es mag sein. Also, ich bin ja keine Psychologin, aber für mich ist das nicht ausschlaggebend. Ich sehe das so, dass es um diese Konkurrenzen geht. Und ich glaube wirklich, dass diese letzten 30 Jahre, dass die eine unglaubliche Krise waren. Also, erst sind 20 Jahre keine Kinder mehr geboren worden. Alice Schwarzer hat gesagt, die ostdeutschen Frauen sind im Gebärstreik. Sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Dann sind die Frauen abgewandert. Es sind überhaupt die Jungen abgewandert und dann noch die Frauen vor allen Dingen. Das hat alles was gemacht. Das sind Verluste und, ja, eben wie bei einer Völkerwanderung vielleicht. Und übriggeblieben sind vor allen Dingen männliche Verlierer. Ich glaube wirklich, dass man das so deutlich zur Kenntnis nehmen muss.
    Florin: Was können die Kirchen da tun?
    Thiel: Ich habe einen Vorschlag an die evangelische Kirche in Deutschland. Wir verdienen im Osten 20 Prozent weniger. Ich finde, alle Gehälter der Kirche sollten sich um 20 Prozent reduzieren und mit dem Geld, was dann übrig bleibt, müssen Pfarrstellen in die Regionen kommen. Nicht nur im Osten, auch im Westen, da, wo Kirche sich zurückzieht. Das schadet. Pfarrhäuser müssten irgendwie bewohnt bleiben. Da muss dann entweder eine schöne Arbeit mit Kindern sein oder ein schönes Café, irgendetwas, was Gemeinschaft fördert, unabhängig von Bekenntnis, unabhängig von Taufe. Das lassen wir außen vor. Einfach leben. Ich glaube, das ist das einzige, was Sinn hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.