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Osteuropäische Autoren
Eine neue Definition von Toleranz

Persönliche Geschichten von Flüchtlingen könnten auch die Haltung von Nationalisten ändern, meinen viele osteuropäische Schriftsteller. Politiker wie Ungarns Premier Victor Orban wollten unterbinden, dass die Menschen, die Hunger und Durst, Schmerz, Gefahr und Verlust erlitten hätten, ein Gesicht bekämen. Dies müsse durchkreuzt werden.

Von Mirko Schwanitz | 04.10.2015
    Flüchtlinge überqueren am 27. August den Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn
    Flüchtlinge überqueren am 27. August den Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn (dpa / picture-alliance / Caroline SeidelSandor Ujvari)
    "Ich bin überzeugt davon, dass wir aus den Geschichten bestehen, die wir einmal gehört haben. Und wir bestehen aus den Geschichten, die wir weitergeben. Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch nur dann zum Menschen wird, wenn er eine eigene Geschichte zu erzählen hat. Ohne Geschichte ist der Mensch nur eine Abstraktion", sagt der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov mit Blick auf die Flüchtlingspolitik osteuropäischer Staaten. Viele Politiker dort möchten, dass die Flüchtlinge eine gesichtslose, konturlose Masse bleiben. Sie wollen nicht, dass die Flüchtlinge eine Geschichte und damit konkrete Gesichter bekommen, beobachtet auch der kroatische Autor Miljenko Jergovic.
    "Die persönlichen Geschichten aber sind nicht nur im literarischen Sinne, sondern generell der Schlüssel dafür, den anderen zu verstehen. Leider unterscheidet sich in Kroatien die Haltung gegenüber den syrischen Flüchtlingen fundamental davon, wie damals mit uns Flüchtlingen aus Bosnien umgegangen wurde. Wir wurden nämlich, weil wir Christen waren wie Menschen empfangen. Die Syrer aber werden in großen Teilen Europas so behandelt, als ob sie Untermenschen wären, nur weil sie Muslime sind. Das ist nicht nur zutiefst unchristlich, sondern rassistisch und chauvinistisch und bedeutet nichts anderes als den Zusammenbruch der Idee von Europa."
    Persönliche Geschichten zu erzählen schaffe Empathie. Doch Empathie, meint Jergovic sei der größte Feind des Nationalismus. So lässt sich auch die Politik des ungarischen Premiers Victor Orban verstehen, meint Miljenko Jergovics ungarischer Kollege, der Schriftsteller György Dragoman.
    "Empathie und Macht, das sind zwei völlig gegensätzliche Pole. In jeder Gesellschaft, in der Macht dominant ausgeübt wird, wird versucht, die Empathie zu unterdrücken. Vielleicht funktioniert das in Osteuropa besser als in Westeuropa. Denn während der Jahre des Kommunismus wurden Worte wie Solidarität oder Empathie ihrer Inhalte entleert. Die Menschen hören diese Worte. Doch sind diese Worte für sie ohne jede inhaltliche Bedeutung. Es war ein großer Fehler, dass man es in Osteuropa in den letzten 25 Jahren nicht geschafft hat, diesen Worten ihren Sinn zurückzugeben oder neue Worte dafür zu finden."
    Vielleicht, so Dragoman, sei das auch einer der Gründe, dass die Stimme der Intellektuellen in Ungarn im Moment nicht gehört werde. Dennoch würden sie nicht aufhören, sich zu Wort zu melden. Und genau das sei die Aufgabe eines Schriftstellers in Zeiten der Krise, sagte Georgi Gospodinov in seiner Antrittsvorlesung zur diesjährigen Siegfried-Unseld-Gastprofessur.
    "Die Menschen, auf die ich mich in Zeiten der Krise verlasse, sind die wahren Krisenexperten. Ihre Namen sind Pessoa, Borges und Kafka, um nur einige zu nennen. Sie erzählen uns, dass die Welt nicht nur durch finanzielle Beziehungen, Cash Flow, Märkte, Zinsen und Kredite erklärt werden kann. Denn wir sind nicht aus Ökonomie und Politik gemacht. Wir bestehen aus unseren Geschichten, aus Sorgen und Zögern und all diesen unerklärlichen Dingen. Das ist der Punkt, an dem die Literatur ins Spiel kommt, das ist ihr know how."
    Gerade vor dem Hintergrund erstarkender totalitärer und fundamentalistischer Ideologien, müsse sich auch die Literatur neuen Herausforderungen stellen, meinte Georgi Gospodinov in seiner Rede zur Siegfried-Unseld Gastprofessur.
    "Es scheint mir an der Zeit für eine neue Definition dessen, was wir Toleranz nennen. Es genügt nicht, den anderen nur zu dulden und zu ertragen. Zu sagen: Du lebst in deiner Welt, mit deinen Gepflogenheiten. Ich werde dich nicht daran hindern und erwarte das Gleiche von Dir. Als existierten wir nicht füreinander. Wir gestehen dir Rechte zu, geben dir einen Job, doch sollst du wissen: Du wirst immer fremd bleiben unter uns. So läuft das unter den heutigen Umständen nicht mehr. Wenn wir heute den anderen verstehen wollen, sollten wir seine Lieblingsbücher lesen und seine Geschichten hören. Was wir brauchen, ist eine neue, aktive Art der Toleranz. Eine, die Anteilnahme einschließt. Sie ist persönlich und politisch, ein Gebot der Stunde."