"Ostinato”
"Ostinato", unter diesem Titel erschien jetzt, nach "La Folia", die zweite CD von Hespèrion XXI, vormals XX, die traditionellen Variationsformen in der Musik diesmal des 16.-17. Jahrhunderts gewidmet ist. Das Ensemble Hespèrion, das 1974 von Jordi Savall zusammen mit Montserrat Figueras, Hopkinson Smith und Lorenzo Alpert gegründet wurde, gehört mit zu den führenden Wegbereitern der Wiederbelebung Alter Musik. Nahezu alle inzwischen über 100 Schallplatten, die Savall auf den Markt gebracht hat, wurden mit Preisen ausgezeichnet und zeugen von einem scheinbar unerschöpflichen Repertoire. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der europäischen, insbesondere spanischen vorbarocken Musik, mit gelegentlichen Ausflügen auch in den Hochbarock. Das besondere Verdienst Jordi Savalls liegt unter anderem auch in der Publizität, zu der er der Viola da Gamba verholfen hat. Wieland Kuijken und August Wenzinger, beides Lehrer von Savall, hatten die Wiederbelebung der Gambenmusik auf Nachbauten alter Instrumente im vorigen Jahrhundert mit initiiert. Und nachdem Savall 1991 die Musik zu dem Film "Tous les matins du monde" gespielt hatte, der von Marin Marais, einem der besten Viola Spieler- und Komponisten seiner Zeit und seinem Lehrer Sainte Colombe handelt, wurde er mit einem Schlag zu einer Weltberühmtheit. Auf dieser Aufnahme spielt Jordi Savall Sopran- und Bass-Viola da gamba. Im Mittelpunkt der Einspielung steht eine der ältesten in Europa bekannten Formen der Instrumentalmusik: ein wiederholtes Melodieschema im tiefen Register als Grundlage für aufeinander folgende kontrapunktische Ausführungen in einer oder mehreren Stimmen des hohen Registers. Die Italiener nannten dies "Basso ostinato", die Engländer "Ground", andere Bass-Formeln wie Passamezzo, Romanesca, Folia, Ruggiero, Passacaglia und Ciaccona entwickelten sich. Hier eine Ciaccona von Andrea Falconiero. * Musikbeispiel: Andrea Falconiero - "Ciaccona” Einen Schwerpunkt in der Arbeit von Jordi Savall und seinem Ensemble Hespèrion bildet die Instrumentalmusik zwischen 1450 und 1600, einer Zeit, in der sich die Instrumentalmusik gegenüber der Vokalmusik immer mehr emanzipierte. Was vielen Außenstehenden jedoch nicht bewusst ist, ist, dass diese Musik, so Savall, "auf der Grundlage der improvisatorisch zu verwirklichenden Ornamentierungs- und Diminuierungskunst ausgebildet" wurde. "Die im 16. Jahrhundert für jeden Berufsmusiker unabdingbaren Improvisationsfähigkeiten", so Savall weiter, "hatten eine Vorstellung der Musikausübung zur Voraussetzung, die ihm im Rahmen seines Aufgabenbereichs ein so hohes Maß an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten einräumte, wie wir sie innerhalb unserer heutigen Musikpraxis nur höchst selten vorfinden. Der besondere Geist, der ein Renaissance-Ensemble beherrschen soll, darf in der Verschmelzung der verschiedenen Musikerpersönlichkeiten auf der Suche nach einem gemeinsamen Ideal gesehen werden. Entfaltung aller historischen , stilistischen und schöpferischen Elemente, die dieser Musik Lebenskraft, Freiheit und Frische verleihen." Jordi Savall vermag hier sehr treffend das zu charakterisieren, was seine Musik ausmacht und ihr ihren unnachahmlichen Klang gibt. Wenn auch die Herangehensweise an die jeweiligen Stücke eine quellenkundliche, akademische ist, so erweist sich doch das Ergebnis immer erfrischend lebendig und verleugnet auch nicht die ursprüngliche volkstümliche Herkunft. Die virtuosen und solistischen Passagen sind in das Ensemblespiel integriert und auch der Klang bleibt direkt, intim und wird nicht künstlich aufgeblasen. Und allein durch die immer neue Zusammensetzung der Instrumente erscheint das Klangbild nie eintönig. Jordi Savall und Hespèrion XXI belassen es bei dieser Aufnahme mit Ostinato-Kompositionen nicht bei einer Herangehensweise, die die improvisatorischen Elemente berücksichtigt, sondern dokumentiert ist hier auch ein Moment echter kollektiver Improvisation über die Bassformel des 'Canarios’. Der 'Canarios’, der von den Kanarischen Inseln stammt, war ein ursprünglich etwas "anrüchiger" schneller Tanz, der außerhalb Spaniens in anderen europäischen Ländern bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als Bassformel für Instrumentalvariationen aufgegriffen wurde und sich großer Beliebtheit erfreute. Er verlor jedoch mit der Zeit seine volkstümlichen Eigenheiten und wurde oft auf höfische Weise kultiviert. Jordi Savall und sein Ensemble geben dem Canarios hier in ihrer Improvisation etwas von ihrer ursprünglichen Gestalt zurück. * Musikbeispiel: Improvisation / Canarios Jordi Savall und Hespèrion XXI spielten eine eigene Improvisation über die Bass-Formel des 'Canarios’. Jordi Savall hat mit ALIA VOX 1998 ein eigenes Plattenlabel gegründet, auf dem er seitdem seine Aufnahmen mit Montserrat Figueras sowie Hespèrion XXI, "La Cappella Reial de Catalunya" und "Les Concerts des Nations" vertreibt. Wahrscheinlich kann er so am besten seine Klangvorstellungen verwirklichen und Programme veröffentlichen, die unabhängig von den Vorstellungen anderer Plattenproduzenten sind. Bei der vorliegenden Aufnahme mit dem Titel "Ostinato" handelt es sich um ein Repertoire, das weniger auf rein formalen als auf einer Folge freier virtuoser Ausführungen über eine vorgegebene Basslinie beruht. Hier enthält das Streben nach wahrer "Authentizität", so die Künstler, auch das "unerschöpfliche Element permanenter persönlicher Kreativität", stammen doch die meisten Variationsfolgen von Komponisten, die selbst namhafte Instrumentalvirtuosen waren und in ihren Publikationen Beispiele ihrer spieltechnischen Meisterschaft vorlegen wollten, die im Allgemeinen von ihrer hoch entwickelten Improvisationskunst nicht zu trennen war. Um mit dieser Musik kreativ und spielerisch umgehen zu können, braucht es allerdings schon die genaue Kenntnis der Quellen und ihrer Zeit sowie das umfangreiche Wissen um die Affekten- und Verzierungslehre, ein Können, das Jordi Savall und sein Ensemble Hespèrion XXI in beispielhafter, perfekter Manier beherrschen. Hören Sie hier zum Abschluss ihre Interpretation von Johann Pachelbels Kanon und Gigue. * Musikbeispiel: Johann Pachelbel - Kanon und Gigue DIE NEUE PLATTE im Deutschlandfunk. Wir stellten Ihnen heute die jüngste Produktion des Ensembles Hespèrion XXI unter der Leitung von Jordi Savall vor. Erschienen ist diese CD mit Kompositionen unter anderem von Ortiz, Falconiero, Rossi, Merula, Purcell und Pachelbel bei ALIA VOX .