
Es ist ein Jahrzehnte altes, gefährliches Erbe: Als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, gibt es in Deutschland noch reichlich Kriegsgerät und Munition. Das Land soll schnell demilitarisiert werden. Die Alliierten entscheiden: Die Hinterlassenschaften sollen in Nord- und Ostsee entsorgt werden – das ist billig und einfach.
In Norddeutschland beauftragen die britischen Besatzer Fischer, die Weltkriegsmunition in festgelegten Versenkungsgebieten abzuladen. Seither liegt der Militärschrott in mehr oder weniger großen Haufen am Meeresboden und rostet vor sich hin.
Es ist der weitaus größte Teil an Munition, der im Meer versenkt wurde. Doch bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurden Kampfmittel so entsorgt. Weitere Munition stammt aus Kampfhandlungen beider Weltkriege. Mit jedem Jahr geht davon eine größere Gefahr aus.

Welche Munitionsaltlasten liegen in Nord- und Ostsee?
Es handelt sich um rund 1,6 Millionen Tonnen Munition: 1,3 Millionen Tonnen in der Nordsee und 300.000 Tonnen in der Ostsee. Dazu kommen etwa 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Zu finden sind Munitionskisten, Bomben, Handgranaten, Panzerfäuste, Torpedos und alle Arten von Minen. Auch Sprengkörper der V1, der ersten serienmäßigen Flugbombe, die den Nationalsozialisten den „Endsieg“ bringen sollte, rosten zu Tausenden auf dem schlammigen Ostseeboden vor sich hin.
Besonders belastet ist zum Beispiel die Lübecker Bucht. Dort lagern schätzungsweise 65.000 Tonnen Altmunition – rund ein Fünftel der gesamten Munitionsmenge in der Ostsee. Und das teils in recht geringer Wassertiefe von 17, 19 oder 23 Metern. Zwei ausgewiesene Versenkungsgebiete der Alliierten liegen vor den Badestränden von Haffkrug und Pelzerhaken.
Das Problem: Die Fischer, die 1945 damit beauftragt waren, den Kriegsschrott ins Meer zu kippen, trafen die Gebiete nicht immer genau oder begannen bereits auf dem Weg dorthin, die Munition zu verklappen. So können sich die gefährlichen Altlasten letztlich überall befinden.
Welche Gefahren gehen von der Weltkriegsmunition aus?
Lange war die Munition im Meer vor allem ein Problem für die Schifffahrt und für Bauprojekte wegen möglicher Detonationen. Wenn beispielsweise ein Offshore-Windpark errichtet werden sollte, mussten die Altlasten des Krieges geräumt werden. Es kam auch bereits vor, dass sogenannte Schießwolle 39 oder Phosphorklumpen an Strände gespült wurden. Sie sehen wie Bernstein aus und können sich selbst entzünden.
Das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel kümmert sich seit Jahren um das Aufspüren und Kartieren von Altmunition. Die Spezialisten haben eine weitere Gefahr belegt: Korrosion. Je stärker Munitionshülsen durchrosten, desto mehr Sprengstoff TNT gerät ins Meer. Nach tausenden Messungen in der Ostsee gab es demnach nicht eine Probe, die kein TNT oder TNT-Umbauprodukte enthalten hätte. „Es ist also überall“, warnt Jens Greinert von GEOMAR.
TNT in Muscheln und Fischen
Auch in Muscheln und Fischen wurde der krebserregende Sprengstoff bereits nachgewiesen. Dieses allerdings noch in „extrem geringen Konzentrationen“, wie der Meeresgeologe betont: „Damit ein Mensch bei diesen Konzentrationen eine bedenkliche Menge an Sprengstoff-typischen Verbindungen aufnehmen würde, müsste er täglich über ein Jahr lang sieben Kilogramm Fisch essen.“
Absehbar ist allerdings auch, dass die Belastung durch TNT und andere krebserregende und gesundheitsschädigende Schadstoffe im Meer weiter steigen wird. Konventionelle Munition enthält auch giftige Schwermetalle wie Quecksilber, Blei oder Arsen.
Und noch auf eine weitere Gefahr macht Greinert aufmerksam: Munition am Meeresboden könnte theoretisch für Anschläge benutzt werden – wie etwa auf die Nord Stream Pipeline.
Wie könnten die Hinterlassenschaften geborgen und entsorgt werden?
Rechtlich ist niemand zur Bergung der alten Kampfstoffe verpflichtet, solange sie keine unmittelbare Gefahr darstellen. Länger gab es auch Unklarheiten über Zuständigkeiten von Ministerien.
Allerdings war es noch das grüne Bundesumweltministerium der Ampelkoalition, das sich entschloss, mit 100 Millionen Euro eine mögliche Bergung der tickenden Zeitbomben voranzubringen. Schließlich sind Mensch und Umwelt zunehmend bedroht.
Das Ziel: Mit sogenannten Piloträumungen sollen zunächst Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie später eine kontinuierliche Räumung erfolgen könnte. Außerdem soll ein Monitoring aufzeigen, wie die Umwelt beim Bewegen der Munition beeinflusst wird. Es gilt zu verhindern, dass noch mehr Sprengstoffverbindungen oder Schwermetalle austreten.

Das Projekt läuft noch bis 2027. In der stark belasteten Lübecker Bucht wurden 2024 erste Versuche gestartet. Dabei zeigte sich nicht nur, dass es viel mehr Munition gibt als angenommen, sondern dass sie teils tief in den weichen Untergrund eingesunken ist. Wo das Sediment weich ist, lässt sich auch nur schwer eine Bergungsplattform aufstellen.
Die Munition, die dennoch geborgen wurde, konnte auch nicht endgültig entsorgt werden, sondern liegt nun gesichert und wasserdicht verpackt am Meeresboden. Die beauftragte Spezialfirma erhielt keine Genehmigung für den Transport über Land zur Entsorgung.
Ohnehin gibt es dafür kaum Kapazitäten: Die bundesweit einzige geeignete Anlage steht im niedersächsischen Munster und ist auf Jahre ausgebucht: mit allem, was auf dem Festland an Blindgängern gefunden wird.
Deshalb soll es künftig eine spezielle Plattform im Meer geben, auf der die Weltkriegsmunition direkt entsorgt wird. Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD) hat das im Juni 2025 auf der UN-Ozeankonferenz in Nizza bekräftigt. Die 100 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt werden allerdings kaum für eine langfristige Finanzierung reichen.
Trotz der vielen Probleme ist Jens Greinert vom Kieler GEOMAR optimistisch: Die jetzt gesammelten Erfahrungen würden sich auszahlen und die Technik Fortschritte machen: „Das ist auch nicht eine Jahrhundertaufgabe. Wenn denn Geld nicht unbedingt das Problem ist und man die Industrie machen lässt und das weiter sozusagen sanft pusht, kriegt man nach meiner Meinung die deutschen Ostseegewässer bis Ende 2040 munitionsfrei.“
bth