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"Ottokar Steinior" neu gelesen

Gleich zweimal verpflichtete sich der rumänische Schriftsteller Oskar Pastior in den 60er-Jahren beim berüchtigten Geheimdienst Securitate. Denunziationen sind dem Dichter nicht vorzuwerfen. Doch sein Werk liest sich im Wissen um die IM-Tätigkeit anders.

Von Jörg Plath | 24.06.2012
    Auch Herta Müller, die seine Erlebnisse im sowjetischen Zwangsarbeiterlager im Roman "Atemschaukel" verarbeitete, hatte es nicht für möglich gehalten: Warum nur hatte der sprachspielerische, keinem Nonsense abgeneigte Dichter Oskar Pastior 1961 gleich zwei Verpflichtungserklärungen bei der Securitate unterzeichnet? Pastior hatte Angst, schilderte Ernest Wichner, selbst Lyriker, Übersetzer und Leiter des Berliner Literaturhauses, die Situation nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956. Die deutschsprachigen Dichter aus Siebenbürgen und dem Banat waren ins Visier der Securitate geraten. Der Geheimdienst legte eine Sammelakte an: "Deutsche Nationalisten und Faschisten". Oskar Pastior wurde bespitzelt. Er fürchtete, als Homosexueller entdeckt zu werden, worauf Gefängnis stand. Fünf seiner Bekannten, deutschsprachige Schriftsteller aus Siebenbürgern, verurteilte man Ende der fünfziger Jahre zu hohen Haftstrafen, ebenso eine Kollegin, bei der Pastior Gedichte über seine Zwangsarbeit im Donbass zurückgelassen hatte, die als "antisowjetisch" galten. Um nicht verhaftet zu werden, so Wichner, wurde Pastior zum Informanten.

    Etwa 10.000 Seiten haben die Mitarbeiter der Pastior-Stiftung sowie der Literaturwissenschaftler Stefan Sienerth und Corina Bernic vom Kulturinstitut Bukarest gelesen Die 214-seitige IM-Akte Pastiors enthält nur Material, das gegen ihn und seine Familie verwendet werden konnte. Denn fünf Jahre nach dem Ausscheiden eines IM mussten dessen Berichte vernichtet werden. Das geschah, nachdem Pastior 1968 aus Österreich nicht zurückgekehrt, sondern in die Bundesrepublik gereist war. Berichte von "Stein Otto" finden sich daher nur in den Opferakten. Ernest Wichner stellte fünf Berichte vor, darunter zwei über Dieter Schlesak, der Pastior 2010 für den Selbstmord eines Freundes verantwortlich gemacht hatte. Die Berichte, so Wichner, seien "so gut wie wertlos" für die Securitate gewesen.

    Das scheint nachvollziehbar. Allerdings können, obwohl die Stiftung systematisch den Freundes- und Bekanntenkreis Pastiors untersucht hat, natürlich weitere Dokumente auftauchen. Weil Pastior nach dem jetzigen Stand nicht belastet scheint, erwägt die Stiftung, die unterbrochene Verleihung des Pastior-Preises wieder aufzunehmen. Das ist angesichts der heftigen Enttäuschung, die etwa Herta Müller über die Täuschung durch ihren Freund äußerte, ein bedeutsamer Schritt – und auch angesichts der moralischen Rigorosität, mit der Herta Müller und andere etwa über Stasi-IMs hier zu Lande urteilten.

    Ein anderes Problem ist der Umgang mit dem Werk. Selbst wenn Pastior keine Denunziation vorzuwerfen ist – seine Gedichte lesen sich jetzt anders. Die Lektüren werden bereichert, wenn sie nicht nur Belege für die oder die andere vorgefasste Meinung suchen. Man muss zwar nicht so weit gehen wie der Lyriker Michael Lentz, der in einem furiosen Vortrag alle denkbaren Interpretationen zwischen Verdrängung und Offenlegung an Gedichten belegte und im Pastior-Stil kalauerte, sie seien mit einem Mal allesamt von einem Autor namens "Ottokar Steinior" verfasst, einem Bastard aus Oskar Pastior und IM Otto Stein. Aber ein neuer Blick auf die ach so wirklichkeitsenthobenen, moralfreien Sprachspiele zwingt sich jetzt auf, dank der Securitate.