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Outcast mit Hang zur unbegrenzten Freiheit

Im Val del Poggio scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Diesmal nicht in der Toskana, sondern im östlichen Teil des Apennins, spielt der neue Roman "Als Durante kam" von Andrea de Carlo. Ein Fantasieort, denn weder das Val del Poggio, noch das Val di Lana und der Ort Trearchi finden sich auf irgendeiner italienischen Landkarte.

Von Katja Lückert | 18.05.2010
    Auf den Höhenzügen des Appenins, hier, wo die Häuser billiger, das Klima rauer und die Menschen zurückhaltender sind, leben Pietro und seine österreichische Freundin Astrid ein veritables Aussteigerleben. Allerdings müssen sich die Aussteiger von heute ranhalten, sie sitzen von morgens bis abends an ihren Webstühlen und fertigen Tagesdecken für eine alternative Hotelkette. Das Schöne am Weben sei eben, dass es nicht die volle Konzentration verlange, sagt Pietro:
    Das, was du tust, nimmt nur einen Teil deiner Aufmerksamkeit in Anspruch, abgesehen von den Momenten, in denen du eine Wahl oder eine Entscheidung treffen musst; ansonsten kannst Du dir ausmalen oder ins Gedächtnis rufen, was du willst, in allen Einzelheiten. Weben ist fast wie Geschichten schreiben: Es handelt sich darum, Farben auszuwählen, Fäden zu einem Muster zu schlingen, einen Plan zu verfolgen, der sich in eine für andere lesbare Dimension übersetzt.
    Andrea de Carlo webt für sein Publikum von Italienliebhabern, besonders in Deutschland, der Schweiz und Österreich, seit vielen Jahren immer wieder multiple Beziehungsgeschichten mit wiederkehrenden Charakteren. Vor dem Hintergrund eines friedlichen Landlebens werden Fragen von Entfremdung oder der Haltbarkeit von Liebesbeziehungen und Freundschaften diskutiert.

    "Natürlich ist die Liebe das stärkste Gefühl, das es gibt. Es hat eine Kraft, die mit nichts anderem vergleichbar ist. Aber es ist eben auch eine sehr verletzliche Kraft, die leicht zu zerstören ist. Freundschaft ist da robuster, toleranter, sie überwindet räumliche Distanzen, aber auch Beleidigungen, Enttäuschungen, die Liebe ist da viel anspruchsvoller."
    Der titelgebende "Durante" ist ein Outcast, ein Pferdeflüsterer, eine Art moderner Schamane, der eines Tages auftaucht und die scheinbare Idylle ins Wanken bringt. Die Frauen verfallen ihm reihenweise nach der ersten Reitstunde, die er in einem Ferienhof, ganz in der Nähe des Hauses von Pietro und Astrid gibt. Dabei ist er nicht unbedingt charmant, Durante sagt jedem unverblümt die Wahrheit:

    "Sie ist vollkommen unfähig, in sich hineinzuhorchen oder aufzunehmen, was von außen kommt "Was redest du da?" sagte die Frau "Für wen hälst du dich?! Sie fuhr sich weiter mit der Hand durch die Haare, drehte sich um sich selbst. "Was ist das für ein Geschwätz?" sagte der Mann. Genau wie seine Frau und auch Astrid und mich befremdete ihn Durantes Art vielleicht mehr als seine Worte. Die scheinbare Naivität, mit der er die Wahrheit aussprach, ohne einen der üblichen Filter normaler gesellschaftlicher Höflichkeit dazwischen zu schalten. "Das gilt natürlich auch für dich", sagte Durante im selben Ton. "Wenn du dich von außen sehen könntest, mit deinem Handy. Keine Sekunde hast du aufgehört zu telefonieren, weil du völlig unfähig ist, hier zu sein.

    Pietro ist eifersüchtig, weil Durante auch ein Auge auf Astrid geworfen hat und, was für ihn fast noch schlimmer ist, auf ihre Schwester Ingrid, die er seit vielen Jahren uneingestandenermaßen liebt. Es knirscht also gewaltig bei den Webern, und Astrid fährt auf einige Wochen nach Graz zu ihrer Familie. "Abstand gewinnen" heißt das im Beziehungsdeutsch. Die Sehnsucht nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit, nach echtem Leben und all dem, was die Sinnsuchenden gewöhnlich mit diesen Worthülsen verbinden, ist groß im Kommen im Val del Poggio. Man hat zwar bewusst ein anderes Leben gewählt, fern vom Bürostuhl oder der Fabrik, und doch droht sich nun ebenfalls Lebenseintönigkeit einzustellen, immer mit derselben Frau, derselben Musik am selben Webstuhl. Da kommt Durante mit seinen Lebensweisheiten, die aus jedem Esoterikratgeber stammen könnten, gerade recht.
    Du bist mit der Vorstellung aufgewachsen, dass jeder Leerraum mit einer beliebigen Tätigkeit ausgefüllt werden muss. Auch wenn es nur eine Reihe von Bildern oder Tönen ist. Es genügt, die Leere auszufüllen, nicht wahr? Dabei spielt die Langeweile eine grundlegend wichtige Rolle. Aus Langeweile entstehen nämlich die Träume und die Wünsche und alle Arten von Erfindung. Wenn du dich nicht langweilst, wirst du nie etwas Interessantes denken.
    Aus Pietros Leben ist jede Form von Langeweile verschwunden, als er seine von Rivalität und Eifersucht geprägten Gefühle überwindet und sich mit Durante auf Reisen begibt, zuerst nach Genua und dann in die Schweiz. Überall hat Durante offenbar einen Familientorso hinterlassen, um nach einem selbstentworfenen Prinzip der unbegrenzten Freiheit zu leben. In Genua beschenkt er seinen halbwüchsigen Sohn zuerst mit einem Schwert und einem Schlagzeug und gibt ihm dann noch eine Menge Tipps zur Selbstverwirklichung, die seine Mutter Giovanna vollends zur Weißglut treiben. Schließlich muss sie die Niederungen des Alltags mit ihrem Kind bewältigen. Auch eine solche Perspektive einzunehmen, gelingt Andrea de Carlo mühelos.

    Aber wenn dann ein Kind da ist, das dreimal am Tag essen muss und Kleider und ein Dach über dem Kopf braucht, wird alles schlagartig viel weniger hinreißend. Und es zermürbt dich, nach der grenzenlosen Faszination der ersten Zeit. Es zermürbt dich, das erklären zu müssen, dass du Bedürfnisse hast, wenn auch auf ein Mindestmaß reduziert. Zu sehen, wie er dieses Gesicht macht, als würde er nicht verstehen. Mit diesem Licht in den Augen.

    Ein ähnliches Szenario dann in der Schweiz: Durante stößt aus purer Lebensfreude seinen im Rollstuhl sitzenden Schwiegervater in einen See, wo dieser – ein Schlaganfallpatient – zum Erstaunen der gesamten Familie in Lachen ausbricht. Durante scheint zwar einerseits das Leben auf eine tiefe Weise zu verstehen, erträgt andererseits dessen alltägliche Gleichförmigkeit nicht und bricht ständig zu neuen Ufern auf. Der entfesselte Durante treibt durch die 44 Kapitel des Buchs, das ab der Hälfte fast einem Roadmovie gleicht.

    "Manchmal höre ich andere Schriftsteller schon fast wie Literaturkritiker über ihre eigenen Bücher sprechen. Sie blicken mit sehr viel Distanz auf das eigene Schreiben, mit einer klaren Perspektive, sie scheinen genau zu wissen, warum sie das Buch schreiben, welche Personen darin vorkommen sollen et cetera. Ich habe einen vielen instinktiveren, irgendwie vitalen Zugang dazu. Ich denke an eine Geschichte und diese Geschichte beginnt immer mehr in meiner Fantasie zu entstehen und dann schreibe ich sie auf. Natürlich gibt es da auch sehr bewusste Phasen, das läuft nicht nur im Unterbewusstsein ab, aber trotzdem gibt es in dieser Bewusstheit viele dunkle Zonen, nicht sondierbare oder zu entziffernde Bereiche und Gründe für bestimmte Entscheidungen, die der Leser vielleicht besser versteht als ich. Manchmal rede ich mit jemandem, der eine viel klarere Vorstellung hat, von dem was ich geschrieben habe, als ich selbst."
    Mit "Als Durante kam" bewegt sich Andrea de Carlo in einem Aussteiger- Ambiente, das er schon seit seinem Roman "Zwei von zwei" verschiedentlich literarisch bearbeitet hat. Von dem erklärten Berlusconi-Feind, der sich in den letzten Jahren auch zuweilen in die politische Diskussion in Italien einmischte, erfährt der Leser diesmal verhältnismäßig wenig vom heutigen Italien. Dafür bekommt er Lebensweisheiten im Überfluss: Durante pflegt sie auf Kärtchen notiert in seinen Übergangsbehausungen an die Wand zu pinnen und er hinterlässt sie auch seinem Freund Pietro, den er - irgendwie folgerichtig - zuletzt wieder seinem Schicksal überlässt.

    Folge deinem Instinkt und denk' daran, dass kaputte Geschichten sich nicht magisch wieder einrenken wie in den amerikanischen Filmen, wenn einer der beiden Hauptpersonen bewusst wird, was sie alles verlieren würde etc. Erprobt eure winzigen Ruder gegenüber der Kraft der Strömung, stützt euch darauf.

    Pietro ist allerdings längst vom Durante-Virus angefressen und findet selbst nicht mehr recht in sein altes Leben zurück. Durante scheint einen Ableger bekommen zu haben.

    Andrea De Carlo: "Als Durante kam". Diogenes Verlag