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Outdoor-Juwel

Besonders schöne Flüsse können in den USA als "National Wild and Scenic River" geadelt werden. Im Norden von Tennessee trägt der Obed River den begehrten Titel. Hier wurde die Idee, nicht in die Natur einzugreifen, regelrecht zum radikalen Konzept. Die landschaftlichen Schatztruhen des Parks sind weder über Landstraßen mit dem Auto, noch über offizielle Trails zu Fuß zu erreichen.

Von Rudi Schneider |
    Das ist die Glocke des Courthouses im verschlafenen Städtchen Wartburg, das 50 Meilen nordwestlich von Knoxville, Tennessee, weit draußen auf dem Land, fernab der großen Highways liegt. Nationalparkranger Joe Zagorski heißt uns willkommen und erklärt uns, warum dieses Städtchen Wartburg, oder deutsch ausgesprochen "Wartburg", heißt.

    "Die Stadt wurde nach der deutschen Wartburg benannt, in der Martin Luther das Neue Testament und Teile des Alten Testaments ins Deutsche übersetzte."
    Wartburg wurde 1840 von Georg Gerding, einem Landspekulanten, mit dem Ziel gegründet, deutsche Kolonien in der Cumberland Region zu gründen. Die ersten Einwanderer aus Deutschland und der Schweiz kamen aus New Orleans über den Mississippi, den Tennessee River und den Emory River nach Wartburg. Im letzten Teil ihrer Anreise auf dem Wasserweg mussten die Siedler extrem schwierige Passagen auf dem Emory River bewältigen, der heute Teil eines nahezu unbekannten Nationalparks ist, dem Obed Wild & Scenic River Nationalpark, erzählt uns die Managerin des Parks, Janet Ambrose.

    "Vier Flüsse haben diese Schlucht und Flusslandschaft vor Tausenden von Jahren geformt. Das sind der Emory River, der Obed River, Daddys Creek und der Clear Creek. Die Schlucht- und Flusslandschaft erstreckt sich über 45 Meilen, ist teilweise sehr tief. Das Wasser hat sich seinen Weg durch ungewöhnlich harte Sandsteinfelsen gesucht. Dabei sind Felsenklippen entstanden, die teilweise überhängen und bis zu 150 Meter hoch über dem Fluss aufragen. Das ist natürlich eine ideale Herausforderung für das Felsenklettern."

    Diese wilde Flusslandschaft ist für Outdoorfreunde der unterschiedlichsten Kategorien ein absolutes Traumgelände, erzählt Janet.

    "Wenn die Indianer, die vor Tausenden von Jahren durch diese Flusslandschaft kamen, sie heute noch sehen könnten, dann würden sie feststellen, dass sich nahezu nichts geändert hat. Es ist unsere besondere Absicht, die vier Flüsse in diesem Gebiet in keiner Weise zu beeinflussen und sie frei fließen zu lassen."

    Wir haben uns mittlerweile auf eine Erkundung dieser Wildnis an den vier Flüssen vorbereitet, das heißt: Festes Kletterschuhwerk, Outdoorkleidung, Mikrofon, Aufnahmegerät und Kamera sind in einem sicheren Rucksack verstaut. Die wenigen Zugänge zum Park, nordwestlich von Wartburg, sind schnell erreicht, und kaum hat man das Fahrzeug abgestellt, dann wird der Unterschied zu den üblichen Wander- und Kletterstrecken schon deutlich. Ein großer Teil der wildesten und zerklüftetsten Gebiete kann man nicht über vorbereitete Wanderwege oder Trails erreichen. Der Weg ist entweder mit Kompass und Karte querfeldein oder auf dem Wasser mit dem Kanu. Und der Wasserweg erfordert für die Kanuten ein hohes Erfahrungspotenzial, wie wir sehr schnell bei einer Gruppe von Kanufahrern an einer felsigen Stromschnelle des Obed Rivers beobachten. Janet Ambrose:

    "Sie müssen wissen, welche Art von Wildwasser wir hier haben. Das ist keins, wie man es normalerweise östlich des Mississippi kennt. Dies hier ist stellenweise so extrem, es kann tödlich werden. Zunächst ist der Fluss ruhig, fließt gemächlich vor sich hin, aber dann, völlig unerwartet, stürzt das Wasser über gewaltige Felsenterrassen in einer Art nach unten, die nur sehr erfahrene Wildwasserfahrer meistern können. Im Wasser befinden sich oft mitgeschwemmte Hindernisse von Überflutungen wie Baumäste, die man nicht erwartet, und die ein Boot unter Wasser ziehen. Die jungen Leute sind oft abenteuerlustig und glauben, sie können alles machen... aber sie sind nicht wirklich bereit für den Obed."

    Nicht nur der Obed River selbst ist eine Herausforderung an geübte Wassersportler, es sind auch die anderen drei Flüsse des Nationalparks. Enge, sich windende Schluchten, Felsenterrassen, über die das Wasser über mehrere Stufen seinen Weg nach unten sucht, oder rauschende Wasserfälle, die man eher nicht mit dem Boot versuchen sollte, prägen diese wilde unberührte Flusslandschaft. Es gibt aber noch eine völlig andere Art, diese Flüsse zu erleben, denn wo es Wasser gibt, da gibt es auch Fische.

    Welche Fische die vier Flüsse bevölkern, weiß Ranger Joe:

    "Schwarzbarsch, Regenbogen-Shiner und der Blaue Sonnenbarsch. Das sind eigentlich relativ kleine Fische. Forellen gibt es im Obed River, soweit ich weiß, keine. Dafür gibt es hier Muskelungen, die wir Muskies nennen, das sind große Fische aus der Familie der Hechte. So ein ausgewachsener Musky ist gut und gerne ein Meter lang und hat sehr scharfe Zähne. Man fängt ihn hier besonders gerne während der Winterzeit."

    Von Joe lerne ich, dass die verschiedenen Fischarten Stellen am Fluss haben, in denen sie sich besonders gerne aufhalten. Das bestätigt uns auch Dwayn Lee, der bis zur Hüfte im kristallklaren Wasser steht und seine Angel in eine ruhige Sandbucht ausgeworfen hat.

    "Da sind etliche Catfish im Fluss, das ist eine Art Wels, und einige andere richtig große Fische, drei bis vier Fuß lang. Man braucht einfach nur eine reguläre Jagd- und Fischerlaubnis. Wir fischen ziemlich oft in dieser Gegend."

    Wir setzten unsere Wanderung entlang des Ufers fort. Wenn man in einer so unberührten Natur unterwegs ist, erzählt Joe, sind Wildbeobachtungen möglich, die man in bewohnteren Gegenden selten oder gar nicht antrifft.

    "Entlang des Flusses sieht man Wasserschildkröten, alle möglichen Arten von Fröschen und... es gibt eine stattliche Gemeinde von Flussottern. Wir haben auch einige Biber gesehen, die bekanntlich gerne Dämme bauen, aber die Otter sind deutlich zahlreicher hier unter den Flusstieren."

    Das vorhin noch weite Tal des Obed Rivers wird zusehends enger und zur River Gorge, wie Joe diese Schlucht nennt. Der Fluss hat sich über Jahrtausende durch harte Sandsteinbarrieren gearbeitet und steile, teilweise überhängende Felsen hinterlassen, die weit über 100 Meter aufragen. Diese Felsen sind ein traumhaftes Gelände für die Freunde aller Arten des Klettersports. Für Anfänger gibt es einen Überhang, der gerade mal zwei, drei Meter über dem Boden aufragt und so ein ideales natürliches Übungsgelände für diejenigen ist, die sich nach diesem Training die richtig großen Felsen vornehmen.


    Hat man den Gipfel der Felsen auf direktem Weg erklettert oder auf weniger steilen Umwegen erwandert, bieten sich, besonders an den Überhängen, grandiose Aussichten hinunter zum Fluss. Besonders im Herbst bietet das Laub der Bäume ein Farbenfeuerwerk links und rechts des wild dahinfließenden Obed. Oben auf diesem Aussichtsplateau verliert sich das Rauschen des Wassers und Stille breitet sich aus und, was erstaunlich ist, absolute Stille. Kein Zivilisationsgeräusch. Ich habe mein Aufnahmegerät eine ganze Minute durchlaufen lassen und für das Mikrofon den Aufnahmepegel bis zum Anschlag gedreht. Es ist absolut nichts zu hören, das Aussteuerungsinstrument bleibt durchgängig bei null. Erstaunlich, sage ich, und Joe sagt schmunzelnd: "Dann schärft sich das Gehör für die Stimmen der Natur, beispielsweise für die Stimmen der Vögel. Joe Zagorski:

    "Wir haben nordamerikanische Wanderdrosseln, Blauhäher und die bekannten knallroten Kardinäle. Im flussnahen Gebüsch nisten gerne gelbe und blaue Finken. Mit viel Glück sieht man auch den American Bald Eagle, den Weißkopfadler, das ist unser Wappentier. In der Abenddämmerung gehen Schreieulen und Schleiereulen auf Beutezug. Entlang dem Flussufer sieht man recht oft den nordamerikanischen Graureiher. Truthähne und -hennen sind gerne in den Auen und Lichtungen unterwegs."

    Mit Joe folgen wir nun eine kurze Strecke einem der wenigen offiziellen Trails im Obed Wild & Scenic River Nationalpark. Wer diese völlig unberührte Natur auf Wander- und Kletterschuhen erkunden will, bewegt sich wie die einstigen Pioniere durch das Gelände über Stock und Stein und gegebenenfalls auch durchs Wasser.

    "Wir haben eine ganze Auswahl von Wildblumen, die größtenteils im späten Frühling blühen. Das sind beispielsweise der Cumberland Rosmarin oder der Rosa Frauenschuh, die hier weit verbreitet sind. In den Flussauen haben sich ganze Teppiche von Porzellansternchen, gelben Narzissen und Gänseblümchen ausgebreitet. Weitere Farbtupfer am Ufer und in den angrenzenden Wäldern sind die großen violetten Waldlilien und wilde Veilchen. Das sind am Obed River die wichtigsten Blumen."

    Um den Daddys Creek zu überqueren, suchen wir uns eine flache, fast ruhige Stelle aus und finden sogar einen umgefallenen Baumstamm, der es uns erlaubt, trockenen Fußes auf die andere Seite zu gelangen. Eine starke Windbö scheint die Fichte vor nicht allzu langer Zeit umgeworfen zu haben. Welche anderen Baumarten in dieser Gegend typisch sind,weiß Joe:

    "Die Eiche, der Tulpenbaum, der wunderschöne gelbe Blüten hat. Selbstverständlich wachsen hier eine ganze Reihe von Pinienarten und natürlich auch die amerikanische Platane, die wir Sycamore Tree nennen. Die westamerikanische Hemlocktanne, die hier auch weit verbreitet ist, ist übrigens der Baum, der durch verschiedene Krankheiten am meisten gefährdet ist."

    Wandern, Klettern, Kanufahren, das hat in einer seit Jahrtausenden unberührten Landschaft eine besondere Qualität, weil sich Flora, Fauna und die Tierwelt größtenteils unbeeinflusst entwickelt haben und deshalb Dinge sichtbar und erlebbar sind, die in bewohnteren Gegenden nicht vorkommen. Am späten Nachmittag lassen wir uns an einer ruhigen Bucht nieder, sammeln etwas Holz und reflektieren den Tag an einem gemütlichen Lagerfeuer. Für Joe und Janet ist das noch mal eine Gelegenheit, von der Geschichte der Region und des Parks zu berichten. Janet Amrose:

    "Liane und Bill Russell haben Mitte der 60er-Jahre diese völlig unberührte Flusslandschaft des Obed River erkundet, dokumentiert und sich für ihre unveränderte Erhaltung eingesetzt. Ihr Engagement trug maßgeblich dazu bei, dass der Obed River 1976 zum Nationalpark wurde. Liane bemüht sich heute immer noch, weiteres Land unter die Obhut des Parks zu bringen und damit zur Vervollständigung des Parks beizutragen."

    Liane Russell ist eine Wissenschaftlerin, die mit ihren genetischen Forschungen weltweit bekannt wurde. Woher der Obed River seinen Namen hat, weiß Joe zu berichten.

    "Der Obed wird oft einfach nur 'OB' genannt. Er wurde nach Obediah Terrell benannt. Er kam um 1770 in diese Gegend und war als sogenannter Long Hunter bekannt. Die Indianer nannten Jäger dann Long Hunter, wenn sie ihrer Ansicht nach zu lange an einem Ort jagten."

    Diese Informationen, sehr gutes Kartenmaterial und individuelle Beratung halten Janet und Joe für alle im Büro des Obed Wild & Scenic River Nationalparks in Wartburg, der Stadt in Tennessee mit den deutschen Wurzeln, bereit. Joes Deutschkenntnisse beschränken sich allerdings nur auf wenige Floskeln, wie er meint, zum Beispiel auf diese:

    "Ich habe leider keinen Boston-Akzent, ich stamme aus Pennsylvania und nicht aus Neuengland. Man sollte angeblich eine saubere Aussprache haben, wenn man deutsch spricht. Ich habe in der Schule nie Deutsch gelernt, sondern Spanisch. Das einzige deutsche Wort, das ich sonst noch kenne, ist: 'Auf Wiedersehen'."