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Pädagogische Hochschule Weingarten
Studiengang gegen funktionalen Analphabetismus

7,5 Millionen Menschen in Deutschland leiden an funktionalem Analphabetismus. Sie können nicht richtig lesen und schreiben. Im bundesweit einzigartigen Masterstudiengang "Alphabetisierung und Grundbildung" können sich Lehrer spezielle Fertigkeiten im Umgang mit Analphabeten aneignen.

Von Thomas Wagner |
    Die Basilika von Weingarten spiegelt sich in den Fenstern des Eingangsberiches der Pädagogischen Hochschule (PH) in Weingarten (Kreis Ravensburg).
    Der hohen Zahl an Analphabeten steht ein eher laues Interesse am Studiengang "Alphabetisierung und Grundbildung" entgegen. (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    ""Wie machen Sie als Lernberatung in diesem ersten Seminar schon mal neugierig?"
    Ein Seminarraum im sogenannten "Schlossbau" der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Die sechs Frauen, die Zuhören, sind alle vom Fach.
    "Also ich bin gelernte Grund- und Hauptschullehrerin. Und die Frage ist, warum so viele nicht lesen und schreiben und grundlegende Kompetenzen in den Bereichen nicht beherrschen."
    Jenny Auer lebt im österreichischen Innsbruck - und hat sich in den berufsbegleitenden Masterstudiengang „Alphabetisierung und Grundbildung" eingeschrieben. Zwar kann sie, wie all die anderen Teilnehmerinnen auch, schon einiges an pädagogischer Erfahrung nachweisen. Für einen erfolgreichen Unterricht gegen funktionalen Analphabetismus reicht das aber nicht. Darin ist sich Jenny Auer mit ihrer Mit-Studentin Silvia Heim aus Kitzbühel einig.
    "Hier geht es ja auch um Erwachsenenbildung. Da geht es jetzt halt sehr stark darum: Wie schafft man den Zugang zu diesen Menschen? Lernberatung, Lernorte."
    "Also dass man nicht in den herkömmlichen Lernorten wie Volkshochschule ansetzt, sondern dass man neue Lernorte findet wie zum Beispiel in Betrieben."
    14,5 Prozent sind funktionale Analphabeten
    Der Bedarf an Pädagogen mit den Sonderqualifikationen, die der Studiengang vermittelt, ist auf den ersten Blick riesengroß.
    "Wir haben 2011 eine Studie bekommen, die uns sagt, dass 14,5 Prozent der Menschen in Deutschland zu diesen funktionalen Analphabeten gehören"
    1.000 Euro Studiengebühren pro Semester
    So Cordula Löffler, Professorin für sprachliches Lernen an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Doch der hohen Zahl an Analphabeten steht ein eher laues Interesse am Studiengang "Alphabetisierung und Grundbildung" entgegen: Seit der vor fünf Jahren startete, haben sich jeweils nur eine Handvoll Interessenten pro Semester eingeschrieben. Das hat allerdings seinen Grund. Seylan Avci, Teilnehmerin und Volkshochschul-Dozentin aus Frankfurt:
    "Es ist teuer, aber man lernt viel."
    Die Teilnehmer müssen nämlich 1000 Euro Studiengebühren pro Semester an die Pädagogische Hochschule Weingarten bezahlen.
    "Günstiger geht das nicht. Das ist eine gesetzliche Vorschrift: Wir müssen leider bei diesen Studiengängen kostendeckend arbeiten."
    Erklärt Cordula Löffler von der PH Weingarten. Voraussetzung zur Teilnahme sei ein vorangegangenes Lehramtsstudium und einige Jahre Berufserfahrung. Damit gelte der Studiengang als Weiterbildung, für die die Hochschule die Teilnehmer zur Kasse bitten muss. Das wäre allerdings, so Cordula Löffler, kein Problem, wenn als Belohnung für einen erfolgreichen Abschluss gut bezahlte Jobs in Hülle und Fülle winkten. Allerdings:
    "Die Praxis sieht leider ganz schlecht aus, weil die Alphabetisierung nicht fest in unserem Bildungssystem verankert ist, sondern angesiedelt ist an den Volkshochschulen."
    Magere Dozenten-Honorare
    Die wiederum sind als Einrichtungen von Städten und Landkreisen häufig chronisch unterfinanziert. Entsprechend mager fallen deshalb die Dozenten-Honorare aus auch für diejenigen mit dem Abschluss der PH Weingarten in der Tasche.
    "Das darf man gar nicht laut sagen: Die bekommen pro Unterrichtsstunde um die 20 Euro. Das ist richtig wenig.")
    Daher fordert Löffler, dass über die Volkshochschulen hinaus, beispielsweise in den Schulen, zusätzliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um möglichst allen Menschen Lesen und Schreiben beizubringen. Dass so etwas möglich ist, zeigt das Beispiel des Nachbarlandes Österreich. Teilnehmerin Jenny Auer aus Innsbruck:
    "In Österreich hat sich zumindest jetzt einmal die Situation so verändert, dass es von staatlicher Seite mehr Anerkennung für diese Situation gibt, was jetzt 2014 klar formuliert worden ist: Allen soll diese Grundbildung, diese Basisbildung zugänglich gemacht werden soll: Also jeder hat in Österreich ein Recht darauf, was in Deutschland nicht der Fall ist."
    Das garantierte Recht für Erwachsene, Lesen und Schreiben gebührenfrei zu lernen, hat in Österreich zu einer hohen Nachfrage nach entsprechend ausgebildeten Pädagogen geführt. Deshalb kommt etwa die Hälfte der Teilnehmer am Alphabetisierungs-Studiengang der PH Weingarten aus Österreich.
    Schritt auf dem Weg zu weniger Analphabetismus
    Zwar gibt es in Deutschland noch keine vergleichbaren Pläne. Einige größere Volkshochschulen allerdings haben das Problem erkannt. Seylan Avci arbeitet derzeit nur freiberuflich als Dozentin an der Volkshochschule Frankfurt. Wenn sie den Weingartner Masterstudiengang erst einmal abgeschlossen hat, wird, so das Versprechen ihres Arbeitgebers, der berufliche Aufstieg auf dem Fuße folgen:
    "Nachdem ich hier mein Studium abgeschlossen habe, kann ich fest angestellt werden."
    Cordula Löffler hofft, dass sich zukünftig viele Bildungsträger diesem Beispiel anschließen. Das wäre aus ihrer Sicht ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu weniger Analphabetismus in Deutschland.