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Pädophilie durch Hirntumor?

Neurologie. – Wie direkt sind Gehirn und Verhalten miteinander verbunden, diese Frage treibt die Neurologen an. Anhand von aufsehenerregenden Fällen lernen sie auch heute noch viel über die physiologischen Grundlagen unseres Verhaltens. So berichtet ein US-Neurologe davon, dass ein Hirntumor bei einem Patienten Pädophilie auslöste. Nach der Gehirnoperation verschwand das auffällige Verhalten des Patienten sofort.

01.11.2002
    Von Kristin Raabe

    Der Mann, der da in die Notaufnahme kam war völlig aufgelöst: Er müsse sich umbringen, ansonsten würde er wahrscheinlich seiner Zimmerwirtin etwas antun - außerdem klagte er noch über Kopfschmerzen. Die Ärzte der Universitätsklinik im amerikanischen Charlottesville, wiesen den 40jährigen Lehrer erst mal in die Psychiatrie ein. Wegen seiner Kopfschmerzen fragten sie vorsichtshalber noch den Neurologen Russel Swerdlow um Rat.

    Als ich ihn traf, war der Patient wach und aufmerksam - allerdings verhielt er sich merkwürdig. Er machte einer Ärztin in unserem Team eindeutige Angebote.

    Aber dann erfuhren die Ärzte mehr über ihren Patienten und sein Verhalten kam ihnen schon nicht mehr so merkwürdig vor. Swerdlow:

    Er war pädophil. Einen Tag nachdem er zu uns in die Notaufnahme kam, sollte er deswegen eine Gefängnisstrafe antreten, weil alle Therapieversuche gescheitert waren. Ich fand seinen Fall äußerst ungewöhnlich, da seine Pädophilie erst spät, in mittlerem Alter, auftrat. Bis dahin hatte er eine völlig normale Lebensgeschichte. Außerdem wies er einige neurologische Symptome auf. Wegen dieser Symptome vermutete ich, das etwas in seinem Gehirn nicht in Ordnung war - vermutlich in der rechten Hirnhälfte. Sein linker Arm fühlte sich taub an und er hatte die Beine beim stehen seltsam weit auseinander.

    Selbstverständlich handelte Russel Swerdlow wie jeder gute Neurologe in so einem Fall. Er ließ das Gehirn seines Patienten in einen Kernspintomographen scannen. Was er dort sah, war eine auffällige Struktur in der rechten Hirnhälfte - so groß wie ein Hühnerei. Swerdlow:

    Ich dachte: Wow das ist ein riesiger Tumor. Wie kann er mit einem Tumor von dieser Größe herumlaufen und eigentlich ganz gesund aussehen. Aber dieser Befund machte irgendwie auch Sinn: Neurologen wissen schon sehr lange, dass ein Hirnschaden in diesem Hirngebiet, die Persönlichkeit verändert und krankhaftes Sozialverhalten auslösen kann.

    Der riesige Tumor lag im sogenannte orbitofrontalen Cortex. Im rechten vorderen Bereich der Großhirnrinde. Dort vermuten Hirnforscher die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und das Urteilsvermögen. Patienten, die dort einen Hirnschaden haben, waren den Neurologen schon oft durch abnormes sexuelles Verhalten aufgefallen. Allerdings war bislang kein Fall von Pädophilie darunter. Russel Swerdlow wartete gespannt, wie sich sein Patient verhalten würde, nachdem ihm Chirurgen den Tumor entfernt hatten. Tatsächlich verschwand die Pädophilie. Rückblickend fiel es dem Mann schwer zu erklären, warum er junge Mädchen sexuell belästig hatte. Swerdlow:

    Er hat immer gewusst, dass seine Handlungen nicht in Ordnung waren, aber ihm war nicht klar, dass etwas mit Ihm nicht stimmte. Er war nicht in der Lage festzustellen, das seine Persönlichkeit sich verändert hatte. Das ist typisch für Patienten mit Hirnschäden im orbitofrontalen Cortex. Nach der Entfernung des Tumors sagte er: Er habe immer gewusst, dass es falsch sei, junge Mädchen zu belästigen, aber das Lustprinzip in ihm sei stärker gewesen. Er hatte die Kontrolle über seine Handlungen komplett verloren.

    Glücklicherweise hatte das Gericht Verständnis für die Situation des 40jährigen. Seine Gefängnisstrafe musste er nicht antreten. Aber das heißt noch lange nicht, dass Richter in Zukunft jeden Pädophilen erst einmal zum Neurologen schicken müssen. Swerdlow:

    Von diesem Fall lernen wir nicht, dass es ein Pädophilie-Zentrum im Gehirn gibt. Viel eher liegen dort besonders hohe Hirnfunktionen, die bei philosophischen Fragen eine Rolle spielen. Es geht hier um die Neurologie der Moral oder die Neurologie des freien Willens. Wie fest sind diese Dinge im Geflecht der Hirnzellen verdrahtet? Wie frei ist unser Wille wirklich und wie viel davon liegt fest verdrahtet in unserem Gehirn vor?

    Das sind Fragen, die Neurologen, Juristen und Philosophen noch viele Jahre beschäftigen werden. Der unbekannte 40jährige Lehrer aus Charlottesville hat alle Chancen in die Medizingeschichte einzugehen. Aber er hat im Moment andere Sorgen: Der Tumor in seinem Kopf ist zwar weg, ob er aber den Krebs endgültig besiegt hat, ist noch lange nicht klar.