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Palenque
Das erste freie Dorf Südamerikas

Entflohene afrikanische Sklaven erkämpfen sich im 16. Jahrhundert in Kolumbien die Freiheit. 400 Jahre später haben sich ihre Nachfahren trotz Armut und Verfolgung eine einzigartige Sprache und Kultur bewahrt. Willkommen in San Basilio de Palenque.

Von Thomas Wagner | 12.10.2014
    Anderthalb Stunden dauert die Fahrt im Bus von der Tourihochburg Cartagena bis nach Palenque. Vallenato-Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Es ist eine Reise in eine andere Welt, circa 60 Kilometer von der kolumbianischen Karibikküste entfernt. San Basilio de Palenque wurde im 16. Jahrhundert von entlaufenen Sklaven gegründet. Nirgendwo sonst ist Kolumbien so nahe an Afrika.
    "Guten Tag. Willkommen. Ich biete Dir eine Tour an, damit Du die Kultur von Palenque kennenlernst."
    Auf dem frisch renovierten Marktplatz von Palenque warten mehrere Touristenführer auf Besucher. Joao Salgado ist einer von ihnen. Joao ist 23 Jahre alt, Musiker und Tourguide. Die erste Station des Rundgangs ist der Gemeinderat.
    "Jetzt sind wir auf dem Weg zum Kulturhaus, wo wir die höchste Autorität unserer Gemeinschaft treffen werden, den Gemeinderat von San Basilio de Palenque."
    Pedro Márquez begrüßt uns. Er ist wie Joao Nachfahre der Sklaven. Mit feuriger Stimme erzählt er vom Nationalhelden des Dorfes, dem Rebellen Benkos Biohó.
    "Benkos Biohó wird als Sklave nach Cartagena gebracht. Er schafft es, mit einer Gruppe von Männern und Frauen zu entkommen. Sie flüchten in den Dschungel. Aber Biohó gibt sich mit seiner Freiheit nicht zufrieden. Er greift die Plantagen an und befreit seine Brüder und Schwestern aus der Gefangenschaft."
    Immer wieder überfallen Biohó und seine Mitkämpfer die spanischen Sklavenhalter. 1612 geschieht dann das Unglaubliche.
    "Benkos Biohó und seine Gruppe von Afrikanern schaffen es, dass die spanische Krone ein Friedensabkommen mit ihnen schließt. 1713 wird dieses Abkommen konkretisiert. Den Menschen in dem Territorium, dass wir heute San Basilio de Palenque nennen, wird offiziell die Freiheit zugestanden."
    Es ist ein Unikum in der Geschichte des spanischen Kolonialreiches. Vermutlich ist es das einzige Mal, dass entlaufene Sklaven es schaffen, ihre Freiheit und sogar ihre Autonomie zu erkämpfen. Und das mehr als hundert Jahre vor der Unabhängigkeit Kolumbiens. Heute nennt sich Palenque das erste freie Dorf Südamerikas. Der Staat erkennt die Palenqueros als offizielle Minderheit an, neben den Indígenas und Afrokolumbianern.
    "Wir fühlen uns anders als die übrigen Afrokolumbianer. Wir haben da einige Elemente, die unsere Identität ausmachen. Eines davon ist unsere Muttersprache."
    Für die Sprachwissenschaftler ist es ein Wunder. Das Dorf hat gerade mal 3.500 Einwohner. Dennoch hat es sich über 400 Jahre hinweg eine eigene Kreol-Sprache bewahrt - das Palenquero. Bernadino Pérez ist die Autorität der Palenquero-Sprache im Dorf.
    "Die Sprache entstand beim Einschiffen nach Amerika, während die aus Angola und dem Kongo stammenden Sklaven miteinander kommunizierten."
    Vor 30, 40 Jahren waren es nur noch die Alten, die Palenquero sprachen. In den 90er Jahren begannen Bernadino und der Gemeinderat, die Sprache wiederzubeleben, mit Unterstützung des Staates, der das Geld gibt.
    "Früher sprachen nur 20 Prozent Palenquero, heute sind es 90 Prozent".
    Bernadino übersetzte die Verfassung, Gesetzestexte. Er schrieb eine Grammatik, ein Wörterbuch. Das wirkungsvollste Rezept zur Wiederbelebung des Palenquero aber war der Schulunterricht.
    "Sendeno. Sientense. Dejen el ruido."
    "Setzt Euch. Lasst den Krach." Wenn Moraima Simarro mit ihrer kräftigen Stimme Anweisungen auf Palenquero und auf Spanisch gibt, dann folgen die Kinder. Moraima ist Lehrerin an der einzigen Schule von Palenque:
    "Wir haben hier das Fach Afrokolumbianische Studien, in dem wir Palenquero und Afrokolumbianische Geschichte unterrichten. Aber auch in anderen Fächern gehen wir auf unsere Kultur ein. In Religion unterrichten wir Spiritualität, in Naturwissenschaften traditionelle Medizin, in Mathematik sprechen wir über alte Techniken der Aussaat, und in Spanisch bringen wir die Verse und Gedichte bei."
    Auf den Straßen von Palenque hört man vor allem Spanisch. Doch die Unterstützer des Palenquero kämpfen darum, dass sich die Sprache weiter entwickelt. Vor dem Gemeindehaus diskutieren einige Männer und Frauen, wie sie das Wort Handy in Palenquero am besten ausdrücken. Eine heiße Diskussion entbrennt.
    "Handys existierten hier früher nicht. Jetzt, da es das Handy nun mal gibt, müssen wir ein Wort dafür suchen. Dieser Mann will für Handy das Wort Chaquero verwenden. Aber das ist es nicht. Das ist das Wort für den Boten, der in anderen Orten Bescheid gibt, dass jemand in Palenque gestorben ist."
    2005 nahm die UNESCO San Basilio de Palenque in die Liste des weltweiten Kulturerbes auf. Nicht nur wegen seiner Sprache. Palenque hat eine lange musikalische Tradition. Vier Tanzschulen gibt es in dem kleinen Dorf. In einer von ihnen spielt Tourguide Joao die Trommeln.
    Die Schüler beginnen, den Mapalé zu tanzen, einen Rhythmus, den Sklaven aus Guinea nach Südamerika mitbrachten. Sie reißen ihre Arme nach oben, ihre Oberkörper und Hüften zucken, Schweiß läuft ihnen über die Gesichter. Die Mädchen knien sich auf allen Vieren, während sich die Jungen über ihren Hinterteilen bewegen. Für den europäischen Geschmack ist die deutliche Erotik ungewohnt.
    Noch ein anderer, ursprünglich kubanischer Rhythmus, der Son, hat in Palenque Wurzeln geschlagen. 1930 kamen kubanische Gastarbeiter ins Dorf und brachten ihre Instrumente mit. Die Palenqueros waren begeistert. Einige Hobbymusiker gründeten das Septett Tabalá. Und - man mag es kaum glauben - die Gruppe existiert noch immer. Rafael Cassiani singt und spielt seit mehr als 70 Jahren in der Band.
    "Meine Onkels gründete das Septett 1930. Ich wurde 1934 geboren. Sie probten im Haus meiner Mutter. Ich hörte zu und lernte, die Rasseln und Klanghölzer zu spielen und zu singen. Mit acht Jahren spielte ich dann in der Gruppe mit."
    Cassiani war mit dem Septett in Argentinien, Kuba, Spanien und in den USA auf Tour. Vier Platten haben sie aufgenommen. An den Wänden seines bescheidenen Hauses hat Rafael Cassiani Dutzende Auszeichnungen hängen. Vorlesen, was auf ihnen steht, kann er nicht. Cassiani ist Analphabet.
    Trotz ihrer reichen Kultur sind die Menschen in Palenque bitterarm. Die Straßen sind nicht asphaltiert, erst die Hälfte des Ortes hat fließend Wasser und Strom. Die Behörden des Departaments haben zusammen mit privaten Stiftungen einen Entwicklungsplan geschrieben. Ein Punkt: Der Tourismus soll ausgebaut werden, sagt Luz Estela Angula von der Stiftung "Semana".
    "Bisher gibt es zehn, elf Unterkünfte in Palenque. Das sind Familien, die den Touristen ein Zimmer zur Verfügung stellen."
    Besucher sollten keine hohen Erwartungen hinsichtlich der Unterkünfte mitbringen. Sie müssen das Wasser womöglich aus dem Plastikfass neben der Toilette schöpfen, und nachts kann auch schon mal das Bett einstürzen. Der Bau von Hotels ist bisher nicht geplant, sagt Luz Estela Angulo. Palenque wird deswegen auch künftig keinen Massentourismus erleben.
    "Wir wollen diese Familien wirtschaftlich helfen. Wir wollen sie weiterbilden, damit sie den Touristen einen angenehmen und guten Service anbieten."
    José Alarcón ist aus Chile bis nach Palenque gereist. Er macht elektronische Musik, und mischt seine Klänge mit denen der Palenqueros.
    "Ich bin gekommen, um mich von der musikalischen Tradition hier inspirieren zu lassen. Ich finde den Ort sehr interessant, mit einer auf diesem Planeten einzigartigen Kultur. Ich sammle die Musik hier und lerne davon."