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"Pan" in Strasbourg

Liebhaber zeitgenössischer Musik in Frankreich haben nicht viel Auswahl an hochklassigen Konzertreihen und Festivals. Neben saisonalen Angeboten in der Cité de la Musique, Paris, ist das Festival "Musica" in Strasbourg zum wichtigsten Anbieter des musikalisch Neuen im Nachbarland geworden und zu einem Indikator dessen, was man im Inneren der Bewegung derzeit für innovativ und einigermaßen verkäuflich erachtet. In diesem Jahr hatte dort Marc Monnets Oper "Pan" Uraufführung.

Autor: Frieder Reininghaus | 02.10.2005
    "Musica 2005" widmete sich lose programmatisch den "Meistern der klanglichen Illusion", die das 20. Jahrhundert hervorbrachte. Zum Kreis dieser zarter oder auch greller erleuchteten Komponisten wird George Benjamin gerechnet und Michael Jarell, aber auch der im Frühjahr mit einem wie posthum wirkenden Siemens-Musikpreis bedachte Henri Dutilleux oder - so gut wie völlig konträr gepolt - der zu einem konzilianteren Spätstil vordringende Helmut Lachenmann, der im Vorfeld seines 70. Geburtstags in ganz Mitteleuropa geehrt wird; zu den erinnerungswürdigen Illusionisten des Klangs wird auch der steinalte Elliott Carter geschlagen, der einst die "rechte Hand" Igor Strawinskys war. Aber wird von Ohren, die sich die "Höhe der Zeit" erschließen, kaum mehr als Vorgriff auf künftige Klangwelten oder eben als "klangliche Illusion" gehört; eher noch die neueren Nötigungen für Streichquartett aus dem Stift von Helmut Lachenmann - zumal, wenn die vier Herren des Arditti-Quartetts mit ihnen in Aktion treten.
    In den verschiedensten Sälen von Strasbourg und Umgebung - im neuen Musik- und Congress-Center ebenso wie im altehrwürdigen Theater an der Place Broglie, im etwas angeranzten Palais des Fêtes im Norden der Altstadt oder im Auditorium des regionalen Funkhauses von France 3, aber auch in der Filature von Mulhouse oder in der Mehrzweckhalle von Schiltigheim bietet das Festival musica ein breit gefächertes Programm, dessen Anspruch sich zwar primär auf das Dreiländereck - aufs Elsass, auf Süd-Baden und die Nordwestschweiz - richtet, aber erheblich über diese Region hinausstrahlt. Auch programmatisch greift das Angebot über Stücke, die irgendwie mit Illusionismus assoziiert werden können, weit hinaus.

    Dennoch erschien eine musikalisch-szenische Arbeit, die etwas rein Imaginäres zu enthüllen versprach, als besonders bemerkenswert: Marc Monnet hatte angekündigt, er werde eher eine Anti-Oper als eine Oper für das Große Theater an der Place Broglie liefern. Und er hat Wort gehalten: "Pan" ist eine Produkt ohne Handlung - ein sybillinisches multimediales Spektakel. Ein Produktion von der Sorte, die bei der RuhrTriennale "Kreation" heißt, und die sich hier durchgängig auf Musik stützt: eine szenisch eingebundene und erweiterte Komposition für Soli (2 Soprane und Bariton) sowie Chor, Orchester, Elektronik und Akrobatik. Zweitweise mutet die Tonspur an wie eine Klavier-Rhapsodie als Grundlage für eine exzessiv erotische Pantomime, bei der eine schöne junge Frau die Kleider los wird: während sie sich weit herunterbeugt und sich oben frei macht, zerrt der Partner schon heftig am Höschen.

    Liebe, Begehren, Tod - unterm Stichwort "Pan", das "alles" oder "gesamt" bedeutet (wie beim Panslawismus, bei panamerikanisch oder Panama), aber auch auf den griechischen Fauns-Gott mit den Bocksbeinen und der legendären Schilfrohrflöte anspielt, wurde - und ohne nahe liegende Verbindungslinien - auf vier Ebenen Text präsentiert (freilich nie vordergründig oder gar dominant, sondern stets wie eine Meta-Dimension): Zu den auf der Rückwand der Bühnen eingeblendeten Schriftzügen kommen die Wortspielereien mit den großen weißen Styroporbuchstaben, die die Akteure auf- und umstellen, dann auch wieder wegtragen; ein Sprecher bestreitet dadaistische Soli. Vom gesungenen Text ist nicht allzu viel zu verstehen - er verschwindet in der Lineatur der Musik. Mali Bendi Merad nutzt ihn für die Demonstration ihrer Stimme, die wie ein Sandstrahl eingesetzt werden kann.
    Unter Leitung von Pierre-André Valade entfaltet eine komplexe Musik im Kontext eines komplexen und narrativ kaum darstellbaren Bühnengeschehens ihre faszinierende Wirkung. Pascal Ramberts Installationen und Inszenierung sorgen dafür, dass dieses Gesamtkunstwerk nicht komplexistisch wirkt und das jeweils einzelne von anderem überdeckt oder erschlagen wird, sondern dass die Simultaneitäten wahrnehmbar bleiben und sinnschärfend wirken. Man darf Marc Monnets "Pan" getrost als Gegenmodell zu Bryan Ferneyhoughs "Shadowtime" nehmen: als gallisch-romanischen Lichtblick gegen eine musikalisch überkandidelte Schattenwelt.