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Pantos statt Böller

Das britische Theater lebt nicht nur finanziell gesehen von seinen so genannten Christmas Pantos, abgeleitet von Pantomime. Von Schweigen kann allerdings keine Rede sein. Pantos erinnern an die italienische Commedia dell Arte. Sie sind wort- und effektreiche Burlesken, die nur so strotzen vor Witz und Slapstick. Auch wenn oft von Christmas Pantos die Rede ist, so haben diese Spektakel weniger mit besinnlichem Weihnachten zu tun, sondern erinnern eher an Karneval. Ruth Rach mit einer Reportage aus dem süd-englischen Eastbourne.

    Man nehme: ein klassisches Kindermärchen, eine Kollektion schräger Charaktere, derbe Witze, schrille Kostüme, noch schrillere Musik – und ein Publikum das total ausrastet. Alter: zwischen vier und 94 .... die Christmas-Panto, das alljährliche Spektakel für die ganze Familie - hochtraditionell, heiß geliebt und urbritisch.

    Schneewittchen, Dornröschen, "Aladdin", so heißen die Dauerbrenner. Sie liefern schmachtende Jünglinge, liebliche Prinzessinnen, finstere Zauberer. Ein bekanntes Repertoire, könnte man meinen. Aber bald schon schlängeln sich zusätzliche Typen durch die Handlung: Hanky und Panky, ein absurdes Polizistenduo, Chester der Narr, der für Chaos sorgt, 40 Winks, eine schläfrige Elfin, die immer wieder vom Publikum geweckt werden muss.

    Es beginnt eine rasante Abfolge aus Slapstick, Akrobatik, Jazz, Popschnulzen, politischer Satire und Melodram, die Schauspieler wie Zuschauer in Atem hält. In Kleinstädten werden lokale Größen in die Handlung verwoben: der Bürgermeister tritt als Dorftrottel auf, die Lehrerin als blutrünstiger Vampir. In London sorgen Promis, Sportler, Popstars und klassische Schauspieler für volle Häuser.

    Im Herzen jeder Panto: die "Dame". Sie wird stets von einem Mann dargestellt: möglichst dichtes Brusthaar, abgrundtiefes Dekollete, üppig aufgetragenes Rouge, Perlohrringe so groß wie Christbaumkugeln, giftgrüne Stöckelschuhe, Berge von Klamotten und eine Stimme wie ein Nebelhorn.

    "Ich kann total albern sein, und werde noch dafür bezahlt, eine Panto ist eine einzigartige Theaterform, solche Publikumsreaktionen bekommt man sonst nirgends", schwärmt Martyn Knight, alias Nellie, die Nachtschwester in "Dornröschen" im südenglischen Badeort Eastbourne.

    Gute "Dames" sind rar. Sie werden schon im Sommer gebucht. Wenn Martyn, die Nachtschwester, den verschreckten Prinzen mit lüsterner Stimme zu einem kleinen Spaziergang ins Wäldchen einlädt, oder gar einen gesetzten Herren im Publikum mit dem Fieberthermometer bedrängt, kreischen Kinder und Erwachsene um die Wette. Eine "Dame" muss männlich sein, sagt Martyn. Schließlich ist die Panto keine Schwulen- oder Transvestitenshow.

    Die Proben für Pantos dauern höchstens zehn Tage. Pannen sind unvermeidlich, die Schauspieler müssen improvisieren. Aber das scheint den Reiz der Panto weiter zu steigern. Gleichzeitig herrschen unumstößliche Regeln: Gute Charaktere kommen von rechts auf die Bühne, Bösewichte grundsätzlich von links: sie werden in giftgrünes Licht getaucht und vom Publikum angezischt. Gespenster und Skelette haben rot glühende Augen. Das Publikum hat die Aufgabe, die Helden lautstark zu warnen.

    Für die meisten Briten sind Pantos der erste Kontakt mit dem Theater. Die Kleinen schwärmen für die Prinzessin, oder den Clown, die Großen zumeist für die Dame.

    "Einfach toll. Ich bin wie ein Vollidiot auf meinem Platz herumgehüpft."

    Pantos sind eine bizarre englische Tradition, räumt der Theaterregisseur von Eastbourne, Chris Jordan ein. Chris’ größter Wunsch, dass seine Pantos die Besucher so mitreißen, dass sie sich in leidenschaftliche Theater-Fans verwandeln, die sich nicht nur Pantos sondern auch Stucke von Beckett und Strindberg anschauen.