Mittwoch, 24. April 2024

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Papier: Kein Gesetzesdefizit in Deutschland

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat die Politik vor einer Überforderung des Staates gewarnt. Es gebe eine Tendenz zur Überreglementierung, nach der bei Problemen in der Gesellschaft sofort die Gesetzesmaschine angeworfen werde, sagte Papier. Man dürfe von der politischen Seite den Bürgern aber nicht vorgaukeln, der Staat könne, wenn er nur wolle, alles regeln.

Moderation: Peter Lange | 17.12.2006
    Peter Lange: Herr Professor Papier, wir haben in diesem Jahr die umfassendste Grundgesetzänderung seit Bestehen der Bundesrepublik, ich meine die Föderalismusreform. Wird 2006 deshalb für Verfassungsjuristen und Verfassungsrichter ein besonders herausragendes Jahr bleiben?

    Hans-Jürgen Papier: Es hat schon viele ganz wichtige Grundgesetzänderungen oder -ergänzungen gegeben. Ich bin mir gar nicht sicher, ob diese Änderung, die wir in diesem Jahr zu verzeichnen haben, zu den größten Änderungen gehört. Aber es ist schon eine sehr beachtliche Änderung unserer bundesstaatlichen Ordnung, die selbstverständlich auch neue rechtliche Probleme aufwerfen wird. Schon deswegen bin ich mir sicher, dass auch für das Bundesverfassungsgericht dieses Jahr der Änderung der föderalen Ordnung nicht spurlos vorbeigehen wird.

    Lange: Was für rechtliche Probleme sehen Sie da?

    Papier: Ja, wir haben zum Beispiel in den Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen der gesetzgebenden Gewalt des Bundes einerseits und der gesetzgebenden Gewalt der Länder andererseits haben wir schon beachtliche Veränderungen. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch in diesen Fragen wiederum in den nächsten Jahren verfassungsrechtliche Probleme geben kann. Ich will nur sagen, dass der Arbeitsaufwand in diesem Hause durch diese Reform nun nicht in beachtlicher Weise sinken wird. Es ist sicherlich ein - wie ich meine - erster Schritt in die richtige Richtung, aber wir wissen alle, dass unsere föderale Ordnung ja doch den veränderten Umständen immer wieder anzupassen ist und dass insbesondere auch noch Reformen in den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern anstehen. Und das wird ein weiterer wichtiger Schritt sein bei der notwendigen Anpassung unserer bundesstaatlichen Ordnung.

    Lange: Wenn Sie jetzt sagen, es gibt dort sicherlich noch Probleme, dann ist das aber kein Ausweis für eine - sagen wir - schlecht gemachte Reform, das ist normal.

    Papier: Das ist normal. Dafür sind wir auch da - "wir", da meine ich das Bundesverfassungsgericht mit -, um verfassungsrechtliche Probleme, die natürlich im Rahmen einer bundesstaatlichen Ordnung auftreten können und auch immer wieder auftreten werden, irgendwie zu lösen.

    Lange: Eine Große Koalition, noch dazu mit einer gleichgerichteten Mehrheit im Bundesrat, könnte in die Versuchung geraten, verfassungsrechtlich gezogene Grenzen dadurch zu überwinden, dass man die Verfassung ändert. Sehen Sie eine solche Versuchung, und wenn ja, wie beurteilen Sie die?

    Papier: Diese Frage ist jetzt sehr abstrakt ...

    Lange: ... wir können es ja am Beispiel festmachen. Der Bundespräsident privatisiert die Flugsicherung nicht. Er sagt, das ist eine hoheitliche Aufgabe. Erste Diskussionen über eine Änderung des Grundgesetzes. Oder Einsatz der Bundeswehr im Inneren - lasst uns das Grundgesetz ändern. Mit den Mehrheiten geht alles, das ist auch legitim. Bleibt die Frage, ob nicht die Gefahr besteht, dass das Grundgesetz auf diese Weise vielleicht schleichend entwertet wird.

    Papier: Also, eine Änderung des Grundgesetzes ist ja noch nicht gleichzusetzen mit einer Entwertung. Wir haben in den über fünf Jahrzehnten des Bestehens des Grundgesetzes ja viele Änderungen gehabt, auch bei kleineren Koalitionen. Es geht aber um die Frage: Ist diese Änderung nötig, ist sie sinnvoll, ist sie einfach auch den Umständen der Zeit geschuldet? Deshalb wird man gar nicht so generell sagen können, eine Änderung des Grundgesetzes ist etwas Verwerfliches, sondern man muss sich den Einzelfall anschauen. Wenn die politische Entscheidung dahin geht, die Flugsicherung in Deutschland in private Hände zu geben, dann wird es, so die Auffassung des Bundespräsidenten, für die politischen Institutionen wohl in der Tat unausweichlich sein, dass Grundgesetz zu ändern. Wobei auch dem Änderungsgesetzgeber, der das Grundgesetz verändert, ja gewisse äußerste Schranken aus der Verfassung gesetzt sind. Also, das Grundgesetz kann nicht in Fragen seiner Grundstruktur - sage ich mal -, also soweit es um die Grundsätze etwa des Artikels 20 geht, also um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Bundesstaatlichkeit, aber auch, soweit es um die Grundsätze etwa des Artikels 1 geht, also um den Schutz der Menschenwürde und die grundsätzliche Anerkennung von Menschenrechten, kann das Grundgesetz nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehen, auch dann nicht, wenn es sich um qualifizierte Mehrheiten handelt. Also, darüber wacht das Bundesverfassungsgericht, und das Bundesverfassungsgericht hat schon in dem einen oder anderen Fall selbst dem Verfassungsänderungsgesetzgeber Grenzen aufgezeigt beziehungsweise - ich sag es mal etwas salopp - die rote Karte gezeigt.

    Lange: Sie haben gerade schon den Artikel 1 genannt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Es gibt periodisch, immer nach Terroranschlägen oder nach besonders grauslichen Gewaltverbrechen, dann immer wieder die Diskussion, ob als Teil der Prävention in Ausnahmefällen Folter nicht doch zumindest straffrei gestellt werden sollte. Wie sehen Sie das? Können sich die Bürger darauf verlassen, dass das Verfassungsgericht diese rote Linie auf jeden Fall verteidigt?

    Papier: Also, ich kann im Augenblick nur meine persönliche Auffassung darlegen. Und die ist in dieser Frage sehr eindeutig, sehr dezidiert: Träger deutscher Staatsgewalt, seien es Justizbehörden, seien es Polizeibehörden, sei es eine andere Sicherheitsbehörde, dürfen in keinem Fall die Folter anwenden. Und unter Folter zustande gekommene Aussagen dürfen im konkreten Verfahren , im Strafverfahren, nicht verwendet werden. Das ergibt sich in meinen Augen klar aus dem Grundgesetz, das ergibt sich aber auch aus der internationalen Anti-Folterkonvention.

    Lange: Herr Papier, die Bundesrepublik - in der Verfassung, wie wir sie kennen - ist neuen Herausforderungen ausgesetzt: Die Globalisierung als weltweite Beschleunigung und Vernetzung der Ökonomie einher gehend mit einer alternden Gesellschaft in Deutschland, eine nationale Politik, die von sich selbst sagt, dass ihre Handlungsspielräume immer geringer werden, und als Folge davon ein tief greifender Vertrauensverlust der Bürger in die Parteien und inzwischen wohl auch in das politische System selbst. Sehen Sie als oberster Verfassungshüter Wege, diese Vertrauenskrise in das politische System zu überwinden?

    Papier: Ich glaube, hier wird es keinen Königsweg geben. Man muss verschiedene Wege, verschiedene Ansätze gehen. Auf jeden Fall müssen wir in Deutschland, finde ich, das parlamentarische System stärken. Es gibt zur parlamentarischen Demokratie heutzutage keine Alternative. Deshalb glaube ich auch nicht, dass der verstärkte Ausbau plebiszitärer Elemente, also die weitere Einführung von Volksentscheiden und Volksbegehren, die Lösung wäre, was ja teilweise empfohlen wird zur Überwindung der gegenwärtigen Krise des Parlamentarismus. Ich glaube, man muss beim Parlament selber ansetzen. Wir müssen die Parlamente wieder stärken. Wir haben in letzter Zeit, nicht zuletzt aufgrund der überkommenen bisherigen föderalen Ordnung, so eine Art Exekutivföderalismus in Deutschland eingeführt ...

    Lange: Das heißt, die Regierungen haben das Sagen?

    Papier: Ja, ja. Und nicht zuletzt eben auch die Regierungen oder die Regierungschefs der Bundesländer über die Institution des Bundesrates. Das ist auch zu Lasten der Parlamente, in jedem Fall der Länder, aber im Grunde auch zu Lasten des Bundesparlamentes gegangen. Denn die großen gesetzlichen Vorhaben wurden gewissermaßen außerhalb des parlamentarischen Diskurses in irgendwelchen "Elefantenrunden" oder schlussendlich im Vermittlungsausschuss innerhalb einer Nacht gewissermaßen beschlossen, aber das Parlament, der Bundestag war vielfach dann nur noch in der Lage, dem zuzustimmen, dies gewissermaßen abzunicken. Wir müssen also verstärkt den Parlamentarismus wieder revitalisieren, sage ich mal. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann überlegen, ob man beim Wahlrecht auch ansetzen kann, dass wir verstärkt wieder darauf setzen, dass Persönlichkeiten in den Bundestag gewählt werden, die eben das Mandat in stärkerem Maße, als es vereinzelt in der Vergangenheit geschehen ist, mit politischer Gestaltungskraft und politischem Gestaltungswillen ausfüllen. Aber das ist natürlich auch nicht der Königsweg, das ist ein möglicher Ansatz.

    Lange: Es wird ja auch immer wieder beklagt, dass wir nie so richtige regierungsfähige Mehrheiten haben in dem Sinne, dass eine Partei mal wirklich ihr Konzept 1:1 umsetzen kann, anders als in England, wo wir immer klare Mehrheiten haben. Wäre das ein Teil einer vorstellbaren Lösung?

    Papier: Also, ich will mich hier nicht dezidiert zu einem Befürworter des Mehrheitswahlrechts machen. Es wäre ein denkbarer, aber ich bin der Auffassung, dass auch das geltende Verhältniswahlrecht mit Persönlichkeitswahlelementen, sage ich mal, angereichert werden kann, so dass ich also nicht darauf angewiesen bin, diesen grundlegenden Systemwechsel hin zum Mehrheitswahlrecht vorzunehmen. Denn das Mehrheitswahlrecht hat natürlich auch Nachteile, wie man deutlich sehen muss, im Verhältnis zur Verhältniswahl.

    Lange: Es hat ja auch den Anschein, als ob die Akteure im Parlament selbst in irgend einer Weise verzagt sind, dass sie selber schon ein bisschen aufgegeben haben. Die Verhältnisse sind komplex. Sie selbst blicken durch dieses ganze bürokratische Regelungsdickicht nicht mehr durch und überlassen das mehr und mehr den Lobbyisten, ihnen da Vorschläge zu machen. Ist das ein Teil der Ursachen?

    Papier: Das ist auch ein Grund, in der Tat. Die Gesellschaft ist sehr komplex. Und die notwendigen Regelungen erfordern natürlich ein hohes Maß an Sachverstand, an Fachwissen auch. Und die Parlamente kommen hier nicht nur in eine Abhängigkeit von dem Sachverstand der Ministerialbürokratie, also der Exekutiven des Bundes und der Länder, sondern auch in eine gewisse Abhängigkeit von den Vertretern der Verbände, die Lobbyisten nämlich, die ein gehöriges Maß an Sachverstand auch mit in die Diskussion bringen. Also, die Parlamente in den modernen Gesellschaften - das gilt übrigens nicht nur für Deutschland, das gilt für andere demokratische Staaten gleichermaßen - müssen sich mehreren "Anfeindungen" stellen, einerseits dem Wissen und dem Sachverstand der exekutiven Ministerialbürokratie auf der einen Seite und den Vertretern der Verbände auf der anderen Seite. Deshalb gehört meines Erachtens in das Parlament nicht nur der sachverständige Abgeordnete, sondern auch der politisch gestaltungsbereite und natürlich der unabhängige, der nur dem Gemeinwohl verpflichtete Abgeordnete.

    Lange: Damit wären wir im Grunde bei einem Rekrutierungsproblem auch der Parteien, die solche Leute nicht mehr in dem Maße haben.

    Papier: Ja, das fängt schon bei der Rekrutierung der Parteien an. Und auch wichtig ist die Zusammensetzung der Liste, die die Parteien dem Wähler gewissermaßen zur Verfügung stellen für die Wahlentscheidung. Und da könnte man natürlich auch schon überlegen, ob der Wähler nicht in stärkerem Maße Einfluss nehmen können müsste auf die Zusammensetzung der Listen und vor allen Dingen auch auf die Reihe der zu wählenden Abgeordneten. Diese starren Listen sind natürlich ein Grund dafür, dass der Wähler selbst wenig Elinfluss hat auf die personelle Zusammensetzung der Parlamente.

    Lange: Es ist ja eine nicht unübliche Methode, politisches Handeln im parlamentarischen Raum auch abzuwehren mit dem Verweis auf das Bundesverfassungsgericht, also zum Beispiel Vermögenssteuer - würden wir ja gerne, geht aber nicht so richtig wegen Karlsruhe, oder NPD-Verbot - denken wir drüber nach, aber da gibt es ja Karlsruhe. Ein Vorwand?

    Papier: Wir betonen an sich immer den großen politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Ich will jetzt nicht ganz konkrete Vorhaben ansprechen, sondern mich ganz allgemein ausdrücken. In der Tat wird sehr häufig Karlsruhe, das Bundesverfassungsgericht, vorgeschoben, aber die Realität gibt das nicht hinreichend wieder. Im Gegenteil, es gibt viele Bereiche, in denen eigentlich ohne Not abgewartet wird, bis Karlsruhe entschieden hat. Also der Gesetzgeber, der an sich selber handeln könnte, durchaus Gestaltungsmacht hat, wartet, bis Karlsruhe in diesem oder jenem Problemfeld eine Entscheidung getroffen hat, und erwartet eigentlich von uns die Vorgabe bestimmter Direktiven, damit man dann im Grunde auf der sicheren Seite sich wähnen kann.

    Lange: Ein Wort zum NPD-Verbot. Hätte ein professionell vorbereiteter Antrag, ein professionell vorbereitetes Verfahren Chancen?

    Papier: Also, ich bitte wirklich um Verständnis, dass ich mich zu irgendwelchen Verfahren, zu den Chancen möglicher Verfahren hier nicht äußere.

    Lange: Sie haben den Gestaltungsspielraum der Politik gerade erwähnt. Ein Problem - die Globalisierung. Könnte die Politik aus Ihrer Sicht auf die Globalisierung wesentlich anders reagieren, als sie es derzeit tut?

    Papier: Es gibt sicherlich trotz Globalisierung nach wie vor einen Gestaltungsrahmen, eine Gestaltungsmöglichkeit für den Gesetzgeber. So allgemein wird man nicht sagen können, dass der moderne Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland angesichts der Globalisierung, angesichts der Verflechtungen im Grunde politisch abgedankt habe. Die Gestaltungsmacht der Politik ist natürlich begrenzt. Das müssen die Bürger auch sehen, das muss man ihnen auch sagen. Man darf nicht von der politischen Seite her den Bürgern vorgaukeln, der Staat könne, wenn er nur wolle, alles regeln, alles in den Griff bekommen, er könne gewissermaßen auftreten wie ein Vollversicherer in allen Lebenslagen. Wenn das dem Bürger vorgegaukelt wird, dann sehe ich eine gewisse Gefahr, die zu mehr Politikverdrossenheit führen kann.

    Lange: Aber das Gegenteil eben auch, wenn Politiker sich zurücklehnen und sagen: Das ist die Globalisierung, da können wir nichts machen.

    Papier: Das wird man so generell in der Tat nicht als Entschuldigung gewissermaßen akzeptieren können.

    Lange: Nun ist dieser Staat hoch verschuldet, was seine Handlungsfähigkeit tatsächlich einschränkt, mit Auswirkungen auf den Sozialstaat, wie wir ihn so aus der guten alten Zeit kannten, Stichwort Hartz IV, Nullrunden bei den Rentnern, Gesundheitsreform. Sie haben bei anderer Gelegenheit mal gesagt, der Staat hat da einen großen Gestaltungsspielraum, auch nach unten. Wo gibt es denn da für Sie eine rote Linie, wo Sie sagen würden: Also, wenn soziale Einschnitte so stark sind, dann wird es fragwürdig?

    Papier: Der Sozialstaat ist natürlich verantwortlich auch wieder für die kommenden Generationen. Und das sozialpolitisch Schädlichste ist im Grunde die immense Verschuldung der öffentlichen Haushalte, denn das geht zu Lasten unserer Kinder und Enkelkinder. Und deshalb muss der moderne Sozialstaat schon darauf achten, dass er sich nicht übernimmt. Wo nun die Grenzen nach unten im einzelnen sind, kann ich hier so allgemein gar nicht beurteilen. Er wird sicherlich differenzieren müssen, ob es um Leistungen geht, die auf eigenen Beiträgen beruhen, die wir hier im Bundesverfassungsgericht sogar als Eigentum qualifizieren. Also, die Ansprüche und die Rechtspositionen, die das Ergebnis eigener Beitragsleistungen sind, die sind natürlich eher geschützt, insbesondere durch die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, als Leistungen, die sich als einseitige staatliche Gewährungen herausstellen. Hier ist der Staat sicherlich freier. Auf der anderen Seite haben wir schon sehr frühzeitig aus der Garantie der Menschenwürde beziehungsweise aus dem Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates abgeleitet, jedem ein menschenwürdiges Dasein, ein Existenzminimum zu gewährleisten, das jedem ein menschenwürdiges Leben gewährleistet. Aber nun fragen Sie mich bitte nicht, wo die Grenze im einzelnen liegt, wo diese Grenze zu errichten ist, ab der von einer Unterschreitung dieses Existenzminimums gesprochen werden kann. Dazu möchte und kann ich mich im Augenblick auch nicht äußern.

    Lange: Den Abschied vom Wohlfahrtsstaat alter Prägung, den haben wir gedanklich vollzogen, vielleicht manchmal noch nicht ganz emotional. Jetzt tauchen neue Formeln in der Debatte auf, zum Beispiel die vom vorsorgenden Sozialstaat, der den fürsorgenden Sozialstaat aber nicht verdrängen dürfe. Also, wir haben den vorsorgenden und den fürsorgenden Staat. Wie verträgt sich das mit dem Menschenbild des Grundgesetzes?

    Papier: Also, ich würde diese Begriffe gar nicht mal übernehmen wollen. Ich meine, man muss auf etwas anderes abstellen. Das Sozialstaatsgebot unseres Grundgesetzes ist ja eingebettet in die freiheitliche Grundstruktur unserer Verfassung. Unsere Verfassung basiert ja auch und vor allem auf der Sicherung von Selbstbestimmung und damit auch Selbstverantwortung. Also, diese freiheitsrechtliche Grundstruktur unserer Verfassung muss in einem Zusammenhang gesehen werden mit der sozialstaatlichen Verbürgung. Das bedeutet also, dass wir durchaus auch die Prinzipien der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung hoch halten müssen, und dass sozialstaatliche Solidarität die eine Komponente unserer Verfassungsordnung ist, aber auf der anderen Seite auch die freiheitsrechtliche Subsidiarität und Eigenverantwortung betont werden muss, und dass deshalb wir nicht darauf setzen dürfen, dass der Staat im Sinne eines Fürsorgestaates den Bürgern eine Rundumversorgung gewährleistet, sondern wir haben ein Verfassungssystem, das von der Eigenverantwortung, von der Selbstbestimmung des Einzelnen ausgeht und das sozialstaatliche Solidaritätsprinzip, das vor allen Dingen dann greift, wenn es um Risiken geht, wenn es um Lasten geht, die der Einzelne sinnvollerweise selber nicht mehr schultern kann.

    Lange: Nun zeichnet sich ja dieser vorsorgende Sozialstaat dadurch aus, dass er für die Fürsorge eigentlich immer weniger Geld hat, aber Gesetze gibt es eben umsonst: Nichtraucherschutz, gesetzliche Pflicht für Vorsorgeuntersuchung von Kindern, Verbot von gewalttätigen Computerspielen, um nur mal ein paar Überlegungen zu nennen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie diese Form der Politik nach dem Motto "Let us make a law", also auf Einzelfälle mit immer neuen - natürlich gut gemeinten - Gesetzen zu reagieren, dass Sie diese Tendenz nicht so toll finden.

    Papier: Ich habe vorhin schon von der Gefahr einer Überforderung des Staates gesprochen, dass er sich gewissermaßen verzettelt. Und dazu zähle ich auch diesen Hang zur Überreglementierung. Also, ich meine die Tendenz in der Politik, dass immer dann, wenn mögliche oder vermeintliche Probleme in der Gesellschaft auftreten, sofort die Gesetzesmaschine angeworfen wird und Normen produziert werden, ohne Rücksicht darauf, ob diese Normen überhaupt jemals irgend jemand vollziehen kann, Gesetzgebung also als symbolische Politik. Wir haben in Deutschland, jedenfalls aufs Ganze gesehen, wirklich kein Gesetzesdefizit. Wenn, dann haben wir allenfalls ein Vollzugsdefizit, was aber vielfach darauf beruht, dass wir einen Normenüberhang haben, den keine Bürokratie mehr zu finanziell tragbaren Bedingungen überhaupt verwirklichen und vollziehen kann. Und wenn das so ist, wir also einen Normenüberhang haben, der im Grunde zu erheblichen Vollzugsdefiziten führt, dann ist eine Wirkung die, dass die Politikverdrossenheit der Bevölkerung eher zunimmt denn abnimmt.

    Lange: Also der Rat des Verfassungsrechtlers: Macht mal halblang mit den vielen Normen?

    Papier: Vorsicht. Bevor man die Gesetzesmaschinerie neu anwirft, sollte man mal überdenken: Muss der Staat sich dieses Feldes annehmen? Muss er hier spezielle Gesetze erlassen - ich denke etwa an den Bereich des Dopings -, oder sollte man darauf vertrauen, dass die gesellschaftlichen Kräfte kraft Selbstbestimmung und Selbstverantwortung hier Regulierungen vornehmen können, oder dass zumindest das allgemeine Strafrecht etwa hinreichende Mechanismen bietet, man also nicht mit neuen Spezialgesetzen hervortreten muss, von denen man wie gesagt gar nicht weiß, ob man sie überhaupt vollziehen kann.

    Lange: Letzte Frage: Was wünschen Sie sich für Ihr Haus für das Jahr 2007? Weniger Arbeit?

    Papier: Diese Hoffnung haben wir längst aufgegeben. Wir haben im Gegenteil im Jahr 2006 doch einen nicht unbeachtlichen Anstieg unserer Verfahren, also der neuen Eingänge von Anträgen, etwa um die 20 Prozent. Das ist ein beachtlicher Anstieg. Und ich wünsche mir eigentlich doch, dass der Anstieg der Arbeitsbelastung nun nicht ständig jedes Jahr um vergleichbare Prozentsätze zunimmt. Denn dann würden wir uns schon die Frage stellen müssen: Müssen wir nicht rechtliche Veränderungen vornehmen, die den Zugang zum Bundesverfassungsgericht irgendwie weiter reglementieren - was ich nicht wünsche, was ich nicht will. Und im Augenblick sind wir durchaus noch in der Lage, den gewissen Anstieg zu bewältigen.

    Lange: Herr Professor Papier, ich danke für das Gespräch.