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Papst
Bergoglio und die argentinische Militärdiktatur

Welche Rolle hat Jorge Mario Bergoglio, der im vergangenen Jahr zum Papst gewählt wurde, während der argentinischen Militärdiktatur gespielt? Nello Scavo zeigt, dass Bergoglio kein Held des Widerstands war. Er agierte im Verborgenen. Das Buch, so der Autor, solle vor allem um die Rolle der Kirche in Argentinien während der Militärdiktatur gehen.

Von Ina Rottscheidt | 25.08.2014
    Papst Franziskus gibt eine Pressekonferenz im Flugzeug auf dem Rückweg von seiner Reise nach Südkorea.
    Bergoglio hat damals unter anderem Menschen zur Flucht verholfen. (AFP / Vincenzo Pinto)
    Die Jahre zwischen 1976 und 1983 gehören zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte Argentiniens. Nach dem Putsch gegen Präsidentin Isabelita Perón errichtete das Militär eine brutale Diktatur. Auf Geheiß von General Videla wurden Oppositionelle gefoltert und getötet. Zehntausende verschwanden, viele wurden lebendig aus Flugzeugen über dem offenen Meer abgeworfen.
    Und die Kirche? Sie erhob mitnichten ihre Stimme gegen das Unrecht. Traditionell waren Kirche und staatliche Macht in Argentinien eng miteinander verbunden. Das erklärt der italienische Journalist Nello Scavo in seinem Buch "Bergoglios Liste":
    "Nur wenige hatten eine weiße Weste. Und noch wenigere waren wirklich unschuldig. Mit ihrem Monopolanspruch auf die ‚katholische Nation' hat diese Kirche sich lange an den Staat und innerhalb des Staates an die Männer in Uniform geklammert. [...] Und so verstanden sich die Kirche und die Streitkräfte lange Zeit als Bollwerk der Ordnung."
    War die Kirche also Mitwisserin und Mittäterin des Videla-Regimes? Teilweise ja, lautet eine Antwort des Buches. Es gab Priester, wie den deutschstämmigen Christian von Wernich, die widerspruchslos die Willkürherrschaft der Militärs hinnahmen und sich sogar am Foltern und Morden beteiligten. Ein anderer, nicht unerheblicher Teil des Klerus schaute weg. Nur wenige leisteten aktiven Widerstand gegen das Regime; einige bezahlten dies mit dem Leben.
    Doch wo stand Jorge Mario Bergoglio, der in den ersten Jahren der Schreckensherrschaft Provinzial war, also der Oberste der Jesuiten Argentiniens?
    Bereits wenige Stunden nach der Papstwahl am 13. März 2013 wurde Kritik an Bergoglio und an seiner Rolle während der argentinischen Militärdiktatur laut. Der argentinische Journalist und Autor Horacio Verbitsky erklärte damals im italienischen Fernsehen:
    "Ich sage, dass Bergoglio ein Lügner ist, er hat zum Beispiel behauptet, es gebe in den Archiven der argentinischen Kirche keine Dokumente über die Verschwundenen. Ich habe aber welche gefunden. Weite Teile der Kirche haben damals die Verbrechen der Diktatur gestützt. Bergoglio hatte Beziehungen zu politischen Kreisen. Natürlich, er war nicht an den Repressionen beteiligt, er hat nicht gefoltert. Aber er war Teil des Apparates."
    Verbitsky beschuldigte Bergoglio, seine Mitbrüder Francisco Jalics und Orlando Yorio 1976 an die Militärs verraten zu haben. Beide waren fünf Monate gefangen gehalten und gefoltert worden.
    Zu zwei weiteren Fällen von Verschwundenen war Bergoglio von einem argentinischen Gericht befragt worden. Auch hatte er eine Messe mit General Videla und seiner Familie gefeiert. Eine Kollaboration mit der Militärjunta konnte ihm allerdings nie nachgewiesen werden. Nello Scavo unternimmt in seinem Buch "Bergoglios Liste" den Versuch, diese Anschuldigungen zu entkräften.
    "Während des Aufenthaltes in San Miguel ‚begriffen wir', berichtet Pater La Civita, dass Bergoglio den Leuten unter dem Vorwand geistlicher Exerzitien Zuflucht im Haus bot. Von dort aus gelangten die Betreffenden dann mit neuen Papieren ins Ausland.' Ob man mehr hätte tun können? ‚Er war der Provinzial der Jesuiten, nicht Supermann. Soviel ich weiß hat er getan, was er konnte.'"
    Scavo erzählt Geschichten: Etwa die des uruguayischen Aktivisten Gonzalo Mosca, dem Bergoglio bei seiner Flucht nach Brasilien half und ihm zum Abschied ein Kofferradio schenkte. Oder die der ehemaligen Strafrichterin Alicia Oliveira, die er im Jesuitenkolleg versteckte und eigenhändig im Kofferraum seines Autos durch die Stadt schmuggelte, damit sie an einem geheimen Ort ihre Kinder treffen konnte. Das Buch macht deutlich: Ein Held des Widerstands war Bergoglio sicherlich nicht. Er wirkte im Verborgenen, so die These des Autors:
    "Es sind Erzählungen von ganz unterschiedlichen Leuten, die meisten kannten Bergoglio damals noch nicht einmal persönlich. Im Schutz des Jesuitenordens hat er damals ein geheimes Netz geschaffen, durch Rechtsberatung, Verstecke und Gespräche mit den Mächtigen versuchte er, den Verfolgten bei der Flucht zu helfen."
    Wie viele es am Ende waren, vermag Scavo nicht zu sagen. Bergoglio selbst hat sich nie öffentlich dazu geäußert. Was er zu sagen hatte, gab er 2010 vor einem argentinischen Gericht zu Protokoll. Diese Dokumente führt Scavo in seinem Buch auf, ebenso zitiert er den argentinischen Friedensnobelpreisträger Adolfo María Pérez Esquivel und auch Francisco Yalics, einen der beiden entführten Padres, der später seine Vorwürfe gegen Bergoglio zurückgenommen hat. Alles in allem also ein flammendes Plädoyer für Papst Franziskus?
    "Nein, es ist keine Verteidigung des Papstes. Es sollte in allererster Linie um die Rolle der Kirche in Argentinien während der Militärdiktatur gehen. Das Buch sollte zeigen, wie gespalten sie war. Und nach der Papstwahl tauchten viele fragwürdige Dokumente und gefälschte Fotos auf. Das wollte ich recherchieren, ich konnte damals auch nicht ausschließen, dass die Vorwürfe bestätigt worden wären. Aber am Ende stellte sich heraus, dass sie nichts mit dem zu tun haben, was ich gefunden habe."
    Scavos Buch ist keine tief gehende Analyse und der Titel ist unglücklich, weil er an "Schindlers Liste" erinnert, also an jenen Oskar Schindler, der während des zweiten Weltkrieges über 1.000 jüdische Zwangsarbeiter vor dem Vernichtungslager rettete. Der Vergleich wirkt übertrieben, Scavos Ansinnen, den Papst zu entlasten, sehr eifrig.
    Doch seine zusammengetragenen Erzählungen lesen sich spannend wie ein Krimi. Sie geben dem Leser eine Ahnung von der menschenverachtenden Brutalität der argentinischen Diktatur und auch von der Rolle der Kirche zu jener Zeit: Der Widerspruch zwischen propagierter Nächstenliebe und praktizierter Machtpolitik hätte größer nicht sein können. Tatsächlich blieb die Haltung der Kirche auch nach der Demokratisierung ambivalent, ein Aspekt, der in Scavos Buch leider fehlt. Aus Sicht der Kritiker hat Argentiniens Kirche wenig dazu beigetragen, ihre eigene Rolle während der Militärdiktatur aufzuklären. Auf eine umfassende Aufarbeitung warten die Opfer und Hinterbliebenen bis heute.

    Nello Scavo: "Bergoglios Liste. Papst Franziskus und die argentinische Militärdiktatur. Eine Geschichte von verschwundenen Menschen und geretteten Leben"(Übersetzung: Gabriele Stein),
    Herder Verlag, 208 Seiten, 16,99 Euro
    ISBN: 978-3-451-34046-8