Im Westen sieht sie sich mit anderen Krücken und Defiziten konfrontiert. Von ihr erfahren wir, wie wir heute leben. Fremd und typisch westdeutsch erscheint ihr das "Leiden an äußerem Überfluß und innerlicher Leere". Äußerer Überfluß? Nur gemessen an der DDR-Realität ergibt das einen Sinn. Denn dieser "soziale Roman" schildert beileibe kein Paradies. Er hat fast ausschließlich den unteren Rand der Gesellschaft im Blick, da wo Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Sozialhilfe die Perspektive vorgeben.
Durch Judith erfährt der Westen auch viel über den Osten: Über das elende Schicksal eines Funktionärssohnes, über das studentische Leben in Erfurt, die Lemuren im Ostfunk und die "Szene" am Prenzlauer Berg. Am Prenzlberg gab es vor der Wende den "einzigen Spielautomaten der Stadt ..., ein rostiges Relikt aus Vorkriegszeiten, in dem Kirschen, Pflaumen und ausgerechnet Bananen um die Wette rotierten".
Diese unbeugsame, ungebrochene Frau erfährt das Leben als "höchste[n] Luxus". Krankheit, Leid, Schmerz sind für sie aufgehoben in der Erfahrung: "Denn Erfahrung besteht doch zu neunzig Prozent aus Erleiden, oder?" Auf der anderen Seite kompensiert sie ihre Behinderung mit einem feinen Sensorium, das Erkenntnis stiftet und Erkenntnis vermittelt. Zwei Beispiele: In der Techno-Szene in Hamburg beobachtet Judith, die sich mit ihren steifen Gelenken nur wie ein "Spastiker" bewegen kann, daß die Menschen im Westen anders tanzen als im Osten, nämlich solo und nur das eigene Spiegelbild im Blick, nicht miteinander. Die zweite Beobachtung: Judith fällt auf, daß in der Techno-Discothek die Geräusche der Arbeit zu hören sind, die im Freihafen fehlen. Techno als Simulation von Arbeit – das ist einer jener Erkenntnisblitze, die Wagners Buch so wertvoll machen.
Welche Verdichtungsarbeit der aus Wurzen /Sachsen stammende Autor (geboren 1948) hier geleistet hat, kann man nur erahnen. Selbstverständlich ist er der Urheber dieser Geschichte in dieser Form, wer auch immer ihm das Rohmaterial geliefert hat. Auf dem bananengelben Buchrücken ist das Foto eines Mädchens zu sehen – sehr wahrscheinlich jene Bruni, der das Buch gewidmet ist und deren literarisches Alter ego Bernd Wagner hier geschaffen hat.
Bernd Wagner ist mit Judith eine Figur geglückt, die den Typus des "vernünftigen Narren" verkörpern kann: Einer verrückten Welt hält sie ihre Auswüchse und Tollheiten vor. Sie zeigt soziales Gewissen, wenn sie gegen willkürliche und absolute Hierarchien im Westen aufbegehrt. Dabei ist sie selber tief beeinträchtigt und psychisch gefährdet bis zum Selbstverlust im Wahnsinn.
Bernd Wagner hat mit Paradies ein Märchen aus der neuen Zeit vorgelegt, bizarr, farbig, emphatisch und fantastisch. Durch ihre Einstellung zum Leben repräsentiert die gelenksteife und behinderte Judith eine innere und äußere Beweglichkeit, die uns allerorten fehlt. Paradies ist der erste gelungene deutsch-deutsche Gegenwartsroman, auf den wir so lange gewartet haben. Auch die Fusion von Eros und Logos, von Intellektualität und Sensualität, ist hier geglückt. Und wenn so fantastische Bücher geschrieben werden, kann es um die deutsche Gegenwartsliteratur nicht schlecht bestellt sein.