Archiv


Paradies

Judith Mehlhorn habe "einen Hang zum Niederen" – so schreibt es ihr schon die Klassenlehrerin ins Zeugnisheft. In Bernd Wagners Roman "Paradies" wird Judiths Geschichte erzählt, die vermutlich authentische Geschichte einer schwer rheumakranken Frau aus Ost-Berlin. Zur Handlungszeit im Frühjahr 1993 ist Judith etwa 47 Jahre alt und seit kurzem Mitarbeiterin des RIAS. In einem Anfall von "Verrücktheit" bricht sie aus ihrem Alltag aus und fährt, angelockt von den Lichtern am anderen Ufer der Elbe, in den Westen. Mit ihrem Freund Konrad und einem lavendelblauen Kleinbus erobert sie sich die alten Bundesländer. Als couragierte Landstörzerin zieht sie von Nord nach Süd, erst nach Hamburg, dann nach Osnabrück und ins Ruhrgebiet, dann über Mühlheim und den Hunsrück nach Lothringen, zurück über Burrweiler nach Bamberg. In Bamberg schließlich entführt sie ein imaginärer Ballon auf die Insel Kreta. Dieser Ballon, der Judith zur letzten Station ihrer Reise bringt und vollends zum "Weltmenschen" macht, ist vielleicht vor allem als ein Hoffnungszeichen zu lesen. Denn mit dem lautlos schwebenden Heißluftballon verknüpften viele Bürger der DDR den Wunsch, dereinst über die Grenze in den freien Westen zu fliegen.

Lutz Hagestedt |
    Judith ist die Haupt-, aber nicht die Erzählerfigur von Bernd Wagners Roman. Erzähler ist ein gewisser William, dem Judith ihre Geschichte anvertraut. Ihre Reise sei "verrückt" gewesen, bekennt Judith mit einem gewissen Stolz. Sie hat ihre Deutschlandfahrt in einem Zustand der Ausgelassenheit, der Ekstase, des Außer-sich-Seins erlebt. Judith ist aber auch im psychischen Sinne "verrückt": Sie hat einen wahrhaften Verfolgungswahn ausgebildet, der sie selbst im Westen nicht zur Ruhe kommen läßt. Ihre Paranoia ist real, ist nicht nur ein "Bild" für den untergegangenen Stasistaat und seine "Observationen". Judith ist wirklich krank, und es gibt Momente in ihrem Bericht, da fürchtet man um ihren Verstand und – mehr noch – um ihr Leben. Denn Judith, Rheumatikerin seit 1981, ist in der DDR mit Cortison vollgepumpt worden. Die Ärzte haben an ihr herumexperimentiert, ihr Körper ist aufgedunsen, sie ist längst invalide und – an besonders schlimmen Tagen – nahezu bewegungsunfähig und hilflos.

    Im Westen sieht sie sich mit anderen Krücken und Defiziten konfrontiert. Von ihr erfahren wir, wie wir heute leben. Fremd und typisch westdeutsch erscheint ihr das "Leiden an äußerem Überfluß und innerlicher Leere". Äußerer Überfluß? Nur gemessen an der DDR-Realität ergibt das einen Sinn. Denn dieser "soziale Roman" schildert beileibe kein Paradies. Er hat fast ausschließlich den unteren Rand der Gesellschaft im Blick, da wo Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Sozialhilfe die Perspektive vorgeben.

    Durch Judith erfährt der Westen auch viel über den Osten: Über das elende Schicksal eines Funktionärssohnes, über das studentische Leben in Erfurt, die Lemuren im Ostfunk und die "Szene" am Prenzlauer Berg. Am Prenzlberg gab es vor der Wende den "einzigen Spielautomaten der Stadt ..., ein rostiges Relikt aus Vorkriegszeiten, in dem Kirschen, Pflaumen und ausgerechnet Bananen um die Wette rotierten".

    Diese unbeugsame, ungebrochene Frau erfährt das Leben als "höchste[n] Luxus". Krankheit, Leid, Schmerz sind für sie aufgehoben in der Erfahrung: "Denn Erfahrung besteht doch zu neunzig Prozent aus Erleiden, oder?" Auf der anderen Seite kompensiert sie ihre Behinderung mit einem feinen Sensorium, das Erkenntnis stiftet und Erkenntnis vermittelt. Zwei Beispiele: In der Techno-Szene in Hamburg beobachtet Judith, die sich mit ihren steifen Gelenken nur wie ein "Spastiker" bewegen kann, daß die Menschen im Westen anders tanzen als im Osten, nämlich solo und nur das eigene Spiegelbild im Blick, nicht miteinander. Die zweite Beobachtung: Judith fällt auf, daß in der Techno-Discothek die Geräusche der Arbeit zu hören sind, die im Freihafen fehlen. Techno als Simulation von Arbeit – das ist einer jener Erkenntnisblitze, die Wagners Buch so wertvoll machen.

    Welche Verdichtungsarbeit der aus Wurzen /Sachsen stammende Autor (geboren 1948) hier geleistet hat, kann man nur erahnen. Selbstverständlich ist er der Urheber dieser Geschichte in dieser Form, wer auch immer ihm das Rohmaterial geliefert hat. Auf dem bananengelben Buchrücken ist das Foto eines Mädchens zu sehen – sehr wahrscheinlich jene Bruni, der das Buch gewidmet ist und deren literarisches Alter ego Bernd Wagner hier geschaffen hat.

    Bernd Wagner ist mit Judith eine Figur geglückt, die den Typus des "vernünftigen Narren" verkörpern kann: Einer verrückten Welt hält sie ihre Auswüchse und Tollheiten vor. Sie zeigt soziales Gewissen, wenn sie gegen willkürliche und absolute Hierarchien im Westen aufbegehrt. Dabei ist sie selber tief beeinträchtigt und psychisch gefährdet bis zum Selbstverlust im Wahnsinn.

    Bernd Wagner hat mit Paradies ein Märchen aus der neuen Zeit vorgelegt, bizarr, farbig, emphatisch und fantastisch. Durch ihre Einstellung zum Leben repräsentiert die gelenksteife und behinderte Judith eine innere und äußere Beweglichkeit, die uns allerorten fehlt. Paradies ist der erste gelungene deutsch-deutsche Gegenwartsroman, auf den wir so lange gewartet haben. Auch die Fusion von Eros und Logos, von Intellektualität und Sensualität, ist hier geglückt. Und wenn so fantastische Bücher geschrieben werden, kann es um die deutsche Gegenwartsliteratur nicht schlecht bestellt sein.