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Paradigmenwechsel eingeleitet

Vor einem Jahr hatte die Hochschulrektorenkonferenz Leitlinien für einen besseren Studienzugang für Behinderte entwickelt. Erste Fortschritte seien bereits zu sehen, war auf der Fachtagung "Eine Hochschule für Alle" zu hören.

Von Katja Bigalke | 06.05.2010
    Thomas Kathöfer, Generalsekretär der Hochschulrektorenkonferenz ist zufrieden: Erst vor einem Jahr hatten sich die Mitglieder seiner Vereinigung in Anlehnung an die UN-Behindertenrechtskonvention getroffen, um Verbesserungsvorschläge zu formulieren für das Hochschulstudium von Menschen mit Behinderungen. Und schon jetzt sieht er erste Fortschritte:

    "In dem letzten Jahr sollten Gespräche geführt werden zwischen den Hochschulleitungen und den Beauftragten für die Belange der Studierenden mit Behinderungen und wir können feststellen, dass eine große Anzahl von Hochschulen diese Gespräche geführt hat und auch Handlungsfelder identifiziert hat."

    Das Studium ist seit der Bologna Reform für Studierende mit Behinderungen deutlich anstrengender geworden. Zu den an vielen Hochschulen immer noch existierenden baulichen Barrieren – fehlende Aufzüge oder behindertengerechte Toiletten – kommen seit der Reform noch die strikteren Anwesenheits- und Lernverpflichtungen der Bachelor- und Masterprogramme hinzu. Für behinderte und chronisch Kranke, die nach einer Selbsteinschätzung immerhin acht Prozent aller Studierenden stellen, überschreitet der Studienrhythmus immer häufiger die Möglichkeiten. Es sei gut, dass in dieser Hinsicht ein Paradigmenwechsel stattgefunden habe, meint Kathöfer.

    "Inzwischen hat sich der Gedanke der Diversity durchgesetzt. Zuvor ging es immer nur darum, dass Menschen mit Behinderungen irgendwelche Nachteilsausgleiche erhalten sollen. Inzwischen wird eine Behinderung auch als Bereicherung angesehen. Das ist ja wirklich ein Paradigmenwechsel weil, das kann man erleben, dass Menschen mit Behinderungen neue Lösungswege entwickeln, um Nachteile auszugleichen und das lässt neue Perspektiven zu."

    Perspektiven, von denen unter Umständen alle Studierenden profitieren können: Zum Barrierenabbau gehört vor allem eine bessere Beratung vor Ort, oder die Möglichkeit des Teilzeitstudiums. Besonders wichtig für Studierende mit Behinderungen ist aber nach wie vor ein wirklich funktionierender Nachteilsausgleich: bei Zulassungsverfahren zum Beispiel oder während der Prüfungen. Hier müsse man umorganisieren, meint Irma Bürger, Behindertenbeauftrage an der Universität Potsdam

    "Es geht darum, dass diesen jungen Leuten die Möglichkeit gegeben wird, die Leistungsmöglichkeiten, die sie haben, auch wirklich erschließen zu können. Dafür braucht man andere Möglichkeiten der Leistungserbringung. Das kann ganz einfach sein, dass ein blinder junger Mann eine Verlängerung der Zeit bei Prüfungen bekommt."

    Irma Bürger findet den angestoßenen Prozess an den Hochschulen deshalb sehr wichtig. Das Bewusstsein habe sich durch die Gespräche im letzten Jahr schon deutlich gewandelt – Barrierefreiheit würde mittlerweile auch als Wettbewerbsvorteil gesehen. An der Universität Potsdam sensibilisiert sie über Tutorials mit behinderten und nichtbehinderten Erstsemestlern für das Thema. Das sei ein Erfolgsrezept meint sie. Aber längst nicht an allen Universitäten in Deutschland hat dieses Umdenken schon eingesetzt. Der Epileptiker Alexander Busam zum Beispiel musste an der Universität Gießen regelrecht um sein Recht kämpfen:

    "Mir steht ja wie jedem Studierendem der Nachteilsausgleich zu: Also dass ich Klausuren, die ich in der vorgeschrieben Form nicht ableisten kann, dann anders ableisten können müsste. Ich habe persönlich eineinhalb Jahre mit einer Anwältin kämpfen müssen, damit das möglich war. Ein Studierender mit nicht so langem Atem, der scheitert schon im ersten Semester oder spätestens im zweiten."

    Für Busam, Projektleiter des Arbeitskreises Disability Studies, ist Deutschland nach wie vor ein Entwicklungsland in Sachen Barrierefreiheit. In angelsächsischen und skandinavischen Ländern könne man sie einklagen – davon sei man hierzulande noch weit entfernt. Deshalb kritisiert er auch, dass die Selbstverpflichtung zur "Hochschule für alle" keinen bindenden Charakter habe. Zwar ist für 2012 eine Evaluation vorgesehen, bei der geprüft wird, wie weit die Hochschulen mit ihren Plänen gekommen sind. Sanktionen für Nachzügler gibt es aber nicht. Und ob Gespräche allein das Ganze dann richten, darf bezweifelt werden.